Hamlet sagt’s ja

Keine Dichterworte im Cour d’honneur! Keine großen Namen auf den Plakaten! Das Festival von Avignon bangt um seine Identität. Dabei kommen Poesie und Pathos auch diesmal nicht zu kurz

VON ANDREAS KLAEUI

Das Theater hatte keine Chance. Der Beginn des Festivals von Avignon mit Jan Fabres „Histoire des larmes“ im Papstpalast, wurde übertönt vom Johlen der freiberuflichen Bühnenkünstler: „Dehors le ministre!“ Brav hatten die Intermittents du spectacle Eintrittskarten gekauft, um die renommierte Premiere zu stören. Der Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres saß wie erwartet im Publikum und tat wie erwartet keinen Wank: Denn dass sich nichts bewegt, ist ein Grund für die Proteste.

Das übrige Publikum war gespalten; die einen wollten, dass es losgeht, die andern zeigten Sympathie. Für eine halbe Stunde wurden die Geister von 2003 wach, als die Intermittents mit ihrem Protest gegen neue Arbeitsregelungen mehrere französische Sommerfestivals zu Fall brachten. Es bedurfte des Auftritts von Jan Fabre und des Festivaldodirektors Vincent Baudriller, um endlich doch anfangen zu können – und wieder mit lautem Geschrei. Denn Fabres „Histoire des larmes“ beginnt mit dem Urschrei von 23 sich embryonal verkrümmenden Tänzerinnen und Tänzern, die da gerade auf die Welt kommen. Sie übertönten die geschulten Stimmen im Publikum nach Kräften, was eine unbeabsichtigte Pointe war, aber gelang.

Die Aufführung allerdings war dann weniger gelungen. Die Erwartungen waren hoch: nicht nur, weil Fabre, Choreograf und bildender Künstler, für den Anspruch steht, dem Theater extreme Räume zu öffnen, etwa Grenzräume des Obszönen wie die des Theoretikers Georges Bataille. Sondern auch, weil er in diesem Jahr als „Artiste associé“ des Festivals verantwortlich ist für einen Teil des Programms und seine Entscheidung, das Festival im Ehrenhof des Papstpalasts, dem prominentesten Platz Avignons, statt mit einem Sprechtheater mit seiner eigenen Inszenierung beginnen zu lassen, programmatisch scheint. Doch diese hohen Erwartungen konnte er mit „L‘Histoire des larmes“ nicht einlösen.

Nach dem Blut in seinem Stück „Je suis sang“, das er auch noch mal zeigt, nimmt Fabre die Tränen in den Blick. Hübsch anzuschauen ist es ja, und manchmal auch wirklich komisch, wie er die Tänzerkörper und die Körpersäfte ins Fließen bringt. Es ist durchaus wirkungsvoll, wie sich in diesem Spiel Leitern emporrecken, wie Glasbehälter allerhand Flüssigkeiten empfangen – aber wenn die Darsteller im Chor trommeln, denkt man an „Stomp“ und bei den Leitern und Flaschen an die Installationen von Louise Bourgeois. Drei zentrale Figuren erinnern an die flandrischen Fabelwesen eines Hieronymus Bosch: der wolfspelzige „Chevalier du désespoir“, der mütterliche „Rocher des larmes“, der „Hund“ Diogenes, der seine Tonne über die Bühne schleppt und einen Menschen sucht. Aber sie helfen nicht, das Spektakel über seine Effekte hinauszuführen. „Je cherche un homme“ ist als Botschaft doch ein wenig schlicht. Der obsessive Fokus auf Urin, Tränen und Schweiß bleibt privat.

Die Franzosen, die nicht nur wenn es um olympische Spiele oder eine europäische Verfassung geht, beständig zwischen Arroganz und Selbstgeißelung schwanken, vermuteten prompt den Niedergang des „Miracle d’Avignon“, des Schauspielwundergeists von Jean Vilar und Gérard Philippe, Maria Casarès, Jeanne Moreau und zuletzt Isabelle Huppert. Kein Sprechtheater in der Cour d’honneur! Keine großen Namen auf dem Plakat! Doch diese Angst ist der blanke Unsinn.

Das Wort lebt am Theater munter fort, auch beim 59. Festival von Avignon, auch wenn die Cour d’honneur für einmal den Körpertheaterprojekten vorbehalten bleibt. Zum Beispiel gerade dort, wo es seine Bedeutungspflicht verliert und in alle möglichen semantischen Richtungen driftet, wie in „dieu & les esprits vivants“ des Belgiers Jan Decorte. Oder umgekehrt, wo sich ein Regisseur ganz aufs Dichterwort konzentriert wie im „Hamlet“ des jungen Regisseurs Hubert Colas aus Marseille. Er lässt Shakespeares Text in einer eleganten minimalistischen Inszenierung auf Schauspielerzungen zergehen. Weil’s aber bei der Wortausstellung bleibt, hat die Aufführung auch etwas ermüdend Gelacktes. Words, words, words: Hamlet sagt’s ja.

Das Recht auf Ruhe hingegen wollen die Revolutionäre in Jean-François Sivadiers „Dantons Tod“ einfordern: Wenn man nichts zu sagen hat, soll man schweigen. Die Inszenierung beginnt mit einer schönen Idee: Die Schauspieler stellen einen Wunschkatalog auf: „Il faudrait“ – man sollte dies Grundrecht haben und jenes dürfen und zum Beispiel die G-8-Politiker mal in eine Poesiewerkstatt schicken.

Schon sind wir mittendrin im revolutionären Entwurf der bürgerlichen Gesellschaft und Büchners Erzählung davon. Sivadier und seine Truppe aus Rennes blicken immer auch auf die heutige Republik, wenn sie ihre Grundlegung betrachten, und sie tun es mit erfreulicher politischer Energie und künstlerischem Elan.

Dass ein Schauspieler dann hintereinander Büchners Danton und Brechts Galilei spielt, gehört ins Kapitel „Parforceleistungen“, an dem in Avignon immer auch geschrieben wird. Zum Beispiel, wenn Olivier Py kommt. Sein neuestes Theaterepos, „Les Vainqueurs“, beginnt nachmittags um drei und endet nachts um halb zwei und ist so packend wie andere Aufführungen in neunzig Minuten nicht. Olivier Py erzählt die Dinge und erzählt eine Geschichte. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann, der sich drei Rollen aneignet: Herrscher, Hure und Totengräber. Mit diesen beinah schon mythischen Rollen rührt er an die großen Fragen des Lebens.

Man kann die Stücke, wie Py es tut, philosophisch sortieren – Ethik, Ästhetik, Metaphysik. Revolution, Schönheit und der Tod sind dann deren Bühnenbilder; doch handelt die Erzählung genauso vom Mittelmeer, dem philosophien- und mythologiengesättigten Kulturraum, der ihr den Hintergrund abgibt; sie handelt von der Möglichkeit, ein Leben zu führen, in dem so etwas wie Poesie eine Qualität ist.

Olivier Py ist pathetisch. Es macht nichts: Er kann’s. Er ist ein Mystiker, der den Heiland in einem Darkroom sucht und dort auch findet. Und er misstraut den Metaphern. Er setzt dem System der Vergleiche die konkrete Gegenwart des Körpers entgegen. Und anders als bei Jan Fabre funktioniert das. „Les Vainqueurs“ ist eine Liebeserklärung an das Leben und das Theater.