: Sich einfach mal hängen lassen
Wie weiter nach Corona? Der Kunstverein Wolfsburg macht dieses Jahr Zukunftsvisionen zum Thema. Aber erst mal gibt es einen Blick zurück: Die Ausstellung „Too much Power (too little Power)“ setzt sich mit der Erschöpfung menschlicher Energie auseinander
Von Bettina Maria Brosowsky
Wie geht es nach Corona weiter? Viele Zukunftsfantasien sprießen dazu ja ins Kraut. Die Arbeit könnte sich durchs erfolgreiche Homeoffice verändern, die Innenstädte könnten auch nach dem Ende aller Lockdowns verödet bleiben. So raunen Bürgermeister:innen und ihre Wirtschaftsleute, weil nun ja fast jede:r das Arbeiten zu Hause und das Shoppen im Netz zu lieben gelernt hat.
Andere, eher kulturphilosophisch Veranlagte, verweisen auf die großen Reformschübe für die Stadt, die schon immer Epidemien wie Pest und Cholera, spanischer Grippe oder Tuberkulose bedurft haben, um hygienischeren, sozialeren, grüneren und vielfältigeren Lebensbedingungen zum Durchbruch zu verhelfen. Musikproduzent:innen schwärmen von dem facettenreicheren, luftigen Klang auf Distanz positionierter Orchester- und Chormitglieder, und auch die darstellende Kunst hat Formen körperlichen Abstands entwickelt, die wohl auch weiterhin zu einem erneuerten Ausdrucksrepertoire gehören werden. Der bildenden Kunst werden per se ja visionäre, das Unbekannte oder Kommende vorwegnehmende Potenziale unterstellt, sodass sie eigentlich nur Bedingungen jenseits des institutionellen Ausstellungsbetriebs in musealen Innenräumen finden müsste, um ihre Relevanz und Qualität zu beweisen.
Das Jahresprogramm des Wolfsburger Kunstvereins, wie immer straight an aktuellen gesellschaftlichen Fragen ausgerichtet, wird sich 2021 mit Zukunftsvisionen beschäftigen. Ausstellungen werden sich der Ästhetik bildgebender Verfahren der modernen Medizin widmen, die zunehmend auch Künstler:innen interessiert. Der bewusst distanzierte Blick in der Kunst, ein anderes Maß an Objektivität, kritischer Reflexion aber auch eine neue Machtposition sowie Deutungshoheit werden untersucht.
Verinnerlichte Selbstausbeutung
Zum Ausklang wird die chinesische Künstlerin und Absolventin der Kunsthochschule Braunschweig, Rui Zhang, ihre bunten, multimedialen Bildwelten ausbreiten, die Motive der Science-Fiction mit historischen Rückgriffen konfrontieren. Das alles steht unter dem Vorbehalt der Pandemie, die – wenig prophetisch – auch dieses Jahr noch für so manch Überraschung in unserem Alltag sorgen wird.
Bis zum Start dieses Programms zeigt der Kunstverein noch bis Anfang Mai, Termin ohne Gewähr, einen Nachzügler aus dem vergangenen Jahr, das unter dem ja bewusst mehrdeutig, auch metaphorisch auslegbar gedachten Generalthema „Alles eine Frage der Energie“ stand. In „Too much Power (too little Power)“ geht es nun um die Selbstoptimierung des Menschen, die ganz persönliche Energie, die jeder investieren muss, um in der modernen Leistungsgesellschaft zu bestehen. Denn die setzt, anders als die fremdbestimmte Ausbeutung im alten Kapitalismus, auf die viel subtilere Selbstausbeutung: Das permanent leistungsfähige Ich wird ein großes, individuelles Projekt. Diese verinnerlichte Leistungsbereitschaft ermöglichte wohl auch erst den Erfolg des Homeoffice, das, so legen erste Erhebungen nahe, den Menschen mehr Arbeitsstunden denn eine zeitoptimierte Entlastung bescherte.
Der in Berlin lehrende und publizierende Szenephilosoph Byung-Chul Han, groß geworden im südkoreanischen Seoul, ist dem schon lange auf der Spur: Besonders die Südkoreaner:innen erledigen, klaglos, jedes Jahr 500 Arbeitsstunden mehr als der OECD-Durchschnitt, bilden sich zudem andauernd fort. Die Kehrseite ist der gesamtgesellschaftliche Burn-out, Südkorea ist laut Han eine „Müdigkeitsgesellschaft im Endstadium“. Sie krankt unter anderem an dem hierzulande noch wenig diagnostizierten „Information Fatigue Syndrom“, der Reizüberflutung durch digitale Information, sowie einer hohen Suizidrate unter Schüler:innen, die in Pisa-Studien ja stets durch Spitzenwerte glänzen.
Um es erst gar nicht so weit kommen zu lassen, kann man sich in Wolfsburg im „Self Care Center“ der Braunschweiger „Bezugsgruppe Rainer Rauch“ der Entschleunigung hingeben. Ein Labyrinth in Cool-down-Pink – in Gefängnis und Psychiatrie zur Aggressionsreduzierung eingesetzt – bietet Stationen der Beratung und Erfrischung mit Gurkenwasser, aber auch Videos von Influencer:innen zur mentalen, physischen, emotionalen und sozialen „Selbstfürsorge“, dem neusten Hit in der Eigenoptimierung.
Gar nicht zu viel Power hingegen können Besucher:innen vor der Schreikiste der Südkoreanerin Mijin Hyun aufbringen, denn nur durch lauteste akustische Äußerungen ruckelt das Übereck gestellte Video ein wenig weiter.
Zum Abschluss die Kunst aufgegeben
Der Leipziger Medienkünstler Stefan Hurtig weiß in großformatigen Fotografien verwaisten Fitnessgeräten skulpturale Qualität und ein latentes Aufforderungspotenzial einzuhauchen, während der Spanier Enric Fort Ballester, auch er Absolvent der Braunschweiger Kunsthochschule, seine momentan nicht aufführbaren Live-Performances durch feine Aktionsskizzen repräsentieren muss. Chen Efraty, 1981 in Israel geboren, stieg aus den Torturen der Selbstperformanz einer zukünftigen Künstlerin aus: Sie nutzte 2019 ihre Abschlussarbeit an der HbK Braunschweig für ein Zwei-Kanal-Video, in dem sie ihre Entscheidung, die Kunst aufzugeben, erklärt. Das alles lässt die magische Arbeit von Gilta Jansen fast vergessen: Ein alter, elfenbeinfarbener Fallschirm atmet, durch einen Ventilator angetrieben, körperhaft relaxt und ungemein meditativ im „Raum für Freunde“.
„Too much Power (too little Power)“ und „Breathe in, breathe out“: bis 2. 5., Kunstverein Wolfsburg
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