berliner szenen: Mit echten Figuren spielen
Die Klingeln an der Haustür sind schon seit Monaten kaputt. Neben die Klingelschilder hat jemand mit schwarzem Edding „Corona is over“ geschrieben und eine Figur hingehuscht, die kiffend in der Sonne liegt. Auf Zetteln im Flur wird bekannt gegeben, dass mindstens fünf Leute im Haus Corona haben. Vor den Fahrstühlen wird gewarnt und empfohlen, die Außentreppen zu benutzen, wozu man aber einen Schlüssel braucht.
Allein im Fahrstuhl halte ich kurz die Luft an, aber nicht die ganze Zeit. Nachdem M. die Tür aufgemacht hat, zögere ich einen Moment, weil es doch unhöflich wäre, vor ihm ins Zimmer zu gehen. Außerdem versperrt er mit seinem Rollstuhl die Tür. Er macht ein bisschen Platz. Ich geh in die Küche, um Tee zu machen. Neben dem Kocher liegen über 30 gebrauchte Teebeutel in Tassen und Schalen. Die meisten sind schon trocken. Die Vorstellung, dass die Teebeutel immer mehr werden, während man selbst sich nicht mehr richtig bewegen kann, hat etwas Beruhigendes. So ähnlich wie der Blumenzwiebelblume beim Wachsen zuzuschauen. Nur anders.
Er lobt das Programm des Deutschlandfunks und die schönen Musikdokus auf Arte mit Jimi Hendrix, Bob Dylan und anderen Helden der taz-Gründergeneration, ich erzähle, dass Sly Stone gestorben ist. Er summt „Everyday People“ von Sly & the Family Stone und meint, dass in dem Lied „Alle meine Entchen“ zitiert wird. Ich glaube ihm nicht, will mich aber nicht streiten. Wir spielen zwei Partien. Es ist schön, mit echten Figuren zu spielen. Die Figuren führen, die Figuren spüren. Er ärgert sich über seine Niederlagen, ich freue mich, dass er konzentrierter ist als das letzte Mal. Du warst halt der Beste im Tischtennis; ich der Beste im Schach. Von uns beiden. Online hab ich in zwei Jahren mehr als 4.000 Partien verloren. Detelf Kuhlbrodt
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