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Alles neu erfinden

Album der Erinnerung, Hoffnung auf Verwandlung: Die „Creation Notebooks“ der brasilianischen Choreografin Lia Rodrigues im HAU 4

Von Katrin Bettina Müller

Eigentlich wollte die Companhia de Danças von der brasilianischen Choreografin Lia Rodrigues 2020 ihr 30-jähriges Bestehen feiern. Weil sie international sehr bekannt sind und mit vielen europäischen Theaterhäusern arbeiten, begann das Jubiläumsjahr mit einer Europatournee im Frühjahr. Die Pandemie setzte dem ein Ende, die Choreografin blieb in Europa, ihre Companhia reiste zurück.

In dieser Situation setzt das erste von sieben „Creation Notebooks“ ein, die nach und nach auf HAU 4, der Onlineplattform des Hebbeltheaters, einem langjährigen Partner von Lia Ro­dri­gues, erscheinen werden. Tänzerinnen und Tänzer aus Brasilien erzählen, wie die Situation der Isolation sie erwischt hat, rausgeworfen aus der Routine des Trainings, der Proben, der Tourneen. „Wie bleibt man aktiv?“, fragt Larissa Lima, und man sieht dabei, wie ein Körper wie ein schwerer Sack durch ein Tür und über Flure geschleift wird. „I had to reinvent everything“, sagt Valentina Fittipaldi, sich selbst, ihre Wohnung, die Bewegungen, den Raum, ihr Leben und das Leben als Companhia. Dabei halfen ihr und den anderen die neue Form des Austauschs über Zoom, über Bücher und Filme zu reden, Gäste zum Gespräch einzuladen, weiter zu studieren und zu forschen, Videos zu tauschen. Aus diesen Videos, mit denen die Companhia-Mitglieder sich praktisch am eigenen Schopf aus dem Sumpf zogen, sieht man viele fantastische Ausschnitte.

Ihr Raum ist begrenzt, manchmal eng wie eine Dusche. Weiße Farbe läuft einen schwarzen Rücken, Farbstaub wird in die Luft gepustet. Hausrat lagert sich auf dem Körper an, verformt ihn, erdrückt ihn und wird ausgeworfen in einer langen Geburt der Dinge. Die Tanzenden weichen auf Dächer und auf die Höfe aus, üben den Gang von Königinnen zwischen den Wäscheleinen, gehen auf allen vieren zwischen einem Dschungel aus Topfpflanzen und erwarten auf dem Dach wie ein Einhorn ähnliches Ungetüm gekleidet die nächste Metamorphose. Wasser und Farbe läuft über die Körper, Erde wird auf den Fußböden weich getreten, die Berührung mit den Elementen gesucht.

In einer Welt, die geschrumpft ist, wird jedes Bild zur Metapher in diesem ersten Notebook mit dem Titel „Covid 19“. Melonen essen, Bananen essen setzt Farbpunkte in die Bilder, aber jede Alltagsgeste scheint fast zum Ritual zu werden, Anknüpfung an ein früheres Leben, als die Welt zugänglicher war.

Das zweite der „Creation Notebooks – Maré“ ist ein Album der Erinnerung an das Centro de Artes da Maré, das Lia Rodrigues mit ihren Leuten 2009 in einer leerstehenden, kaputten Lagerhalle in Maré, einer Favela von Rio de Janeiro, aufzubauen begann. Auch hier steht wieder eine Verwandlung an, eine Rui­ne nutzbar machen, die Türen für viele öffnen, die sonst kaum Möglichkeiten haben nicht nur Zuschauer der Kunst zu sein, sondern Teilnehmer. Die Ausstattung ist spartanisch, aber das stört die Kinder und die Erwachsenen nicht, die das Centro des Artes auf vielen Bildern füllen.

Jetzt an dieser Collage zu arbeiten, die an dieses Projekt erinnert, in dem der Tanz eben auch zu einem Mittel der Teilhabe wurde und zu einem Bildungsangebot, muss für die Choreografin in der Zeit der Pandemie auch ein Trost gewesen sein. 1956 geboren blickt sie auf eine Geschichte zurück, in der sie viel erreicht hat, obwohl es an Unterstützung im eigenen Land oft gefehlt hat.

Die weiteren, im Verlauf der nächsten Wochen erscheinenden „Creation Notebooks“ gelten den fünf Stücken, die auf der Tournee 2020 gezeigt werden sollten: Darunter ist auch „Fúria“, 2019 im HAU zu Gast. Für dieses Stück wurde sie 2019 zur Choregrafin des Jahres von der Zeitschrift tanz gewählt.

Lia Rodrigues, „Creation Notebooks“ auf HAU 4

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