: Planwirtschaft in Weiß
Ein ebenso schlichter wie beeindruckender dokumentarischer Episodenfilm aus dem nördlichsten Zipfel Russlands: „Sieben Lieder aus der Tundra“ von Markku Lehmuskallio und Anastasia Lapsui ist im Rahmen des Sommerprogramms „Cinema AntArctica“ im Metropolis zu sehen
Die Nenet leben in der Tundra am nördlichsten Zipfel Russlands – mit ihren Rentieren, in ihren fellenen Familientipis, mit ihren Ritualen und Alltagssorgen. In sieben narrativen Episoden fängt das Dokumentarfeature Sieben Lieder aus der Tundra von Markku Lehmuskallio und Anastasia Lapsui dieses Leben ein. Den ebenso schlichten wie beeindruckenden Streifen zeigt das Metropolis Kino im Rahmen seines Sommerprogramms „Cinema AntArctica“.
Jede Episoden beginnt mit einer Ballade. Der Protagonist besingt darin seine Geschichte. Dann fließen die Bilder: Eine rituelle Rentierschlachtung an einem kleinen Baum mitten im Schnee; ein Mädchen flüchtet vor der arrangierten Ehe und landet im Elend; die Frauen einer Fischerinnenbrigade träumen von Freiheit, doch die Sowjets drangsalieren sie mit planwirtschaftlichen Zielvorgaben; zwei Kriegsveteranen ertränken ihren Schmerz über verlorene Freunde und Angehörige am Fuße der Leninstatue in einem winzigen Dorf; ein Nemet-Mädchen weigert sich, die sowjetische Schule zu besuchen.
In den meisten Episoden spielen sich die Laienschauspieler selbst: der Polizist also den Polizisten, die Fischerin die Fischerin und der Sowjetkommissar den Sowjetkommissaren. Das Regieduo Markku Lehmuskallio und Anastasia Lapsui hat bereits mehrere Dokumentationen über diesen kargen Landstrich gemacht. Das neue Konzept indes, die Menschen sich diesmal selbst spielen zu lassen, geht voll auf: Wenige, klare Worte an der dramaturgisch richtigen Stelle, schlichte, starke Posen, schwarz-weiße Bildästhetik, das alles verleiht den kurzen Geschichten ihre narrative Dichte.
Filmemacherin Anastasia Lapsui stammt selbst aus einem Fischercamp. Die Episode über die Fischerinnen zweier verfeindeter Clans trägt also autobiografische Züge. Aus der Sicht einer, die dieses Leben kennt, hat Lapsui auch die Drehbücher zu den anderen Geschichten geschrieben. Den kleinen Narrationen in Sieben Lieder aus der Tundra gelingt es, anhand von äußerlich unspektakulären Einzelschicksalen die Reibung zwischen den einzelnen Gruppen untereinander wie auch mit den herrschenden Sowjets zu zeigen. Da fließen echte Tränen, diese Menschen strahlen aber auch Ruhe und Stärke aus. Den beiden Regisseuren „ist es gelungen, die ganz eigene Schönheit der Landschaft und den Charme dieser am Rand der Welt lebenden Menschen einzufangen“, befand die taz bremen im Jahr 2001.
Obwohl sie mit ihren komplizierten Beziehungen im Mittelpunkt stehen, schwenkt die Kamera zum Glück immer wieder auch über die faszinierende Landschaft: mal weiße Wüste, karge Steppe, Endmoränen –Ufer. Lyrische Landschaften, ebenso wie ihre Bewohner ein wenig melancholisch, aber nicht traurig. Da wirken die zackigen Sowjetkommissare wie Eindringlinge in dieses Universum. Und so bezieht der Film politisch zwar eindeutig Stellung, ohne allerdings den moralischen Zeigefinger zu schwenken. Katrin Jäger
Sieben Lieder aus der Tundra, OmU, 23. + 26. 7., 18.30 Uhr, Metropolis