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Archiv-Artikel

Die Freiheit der kleinen Form

Wenn der Kürze des Moments in jedem einzelnen Satz die Dauer des Augenblicks gegenübersteht: die bis zum Zerreißen gespannte Erwartung. Der Drehbuchautor Bernd Lichtenberg erzählt in seinem ersten Prosaband „Eine von vielen Möglichkeiten, dem Tiger ins Auge zu sehen“

Vom Tod ist häufig die Rede in diesen Geschichten von Bernd Lichtenberg

Es ist nicht unbedingt angenehm, wenn man in fortgeschrittenem Alter plötzlich entdeckt, dass das eigene Leben auch ganz anders hätte verlaufen können. Jeder Moment, so heißt es bei Bernd Lichtenberg, kann das vorläufige Ende einer anderen Geschichte sein, die sich in einem Paralleluniversum zeitgleich vollzogen hat. Solche Parallelgeschichten, die „wie tote Gleise durch dichten Wald“ führen, versammelt er in seinem ersten Prosaband „Eine von vielen Möglichkeiten, dem Tiger ins Auge zu sehen“.

Die Grenzen zwischen harter Wirklichkeit, Fantasie und surrealer Bodenlosigkeit sind dabei fließend. Kunst dient dazu, die Realität unmöglich zu machen. In einer der sechsunddreißig kurzen Geschichten läuft die Zeit tatsächlich rückwärts, als könnte das Geschehene damit ungeschehen gemacht werden: Die Schneeflocken steigen zum Himmel auf, die Tränen fließen von den Wangen hinauf in die Augen, eine Gewehrkugel löst sich aus einem Herz und landet zielsicher im Gewehrlauf. „Winter 43“ ist dieser Moment im russischen Wald überschrieben, als „alles anfing und wieder stillstand, bevor es zu Ende war“.

Immer wieder werden Familienverhältnisse untersucht, Familiengeheimnisse ergründet und Kindheitserinnerungen beschworen, in denen die frühe Bundesrepublik kenntlich wird: Die erste Liebe in einem Baumhaus, aus der nichts werden konnte als ein flüchtiger Kuss. Der Tod des Vaters, dessen letztes Wort „Whakatane“ zu vielen fantastischen Möglichkeiten aufruft. Und dann gibt es da unter der Überschrift „Imagination“ einen Cousin, der seine Fantasiebilder ganz konzentriert mit geschlossen Augen denkt, weil er glaubt, sie damit wirklich zu machen. Ein kleines Kraftfeld ist um ihn herum zu bemerken, das „die Welt, wenn auch nur scheinbar, in die Richtung dessen drückt, was man schon in seinen Träumen vorweggenommen hat“. Den plötzlichen Tod seines Vaters kann aber auch er nicht aufhalten.

Vom Tod ist häufig die Rede in diesen Geschichten von Bernd Lichtenberg, die oft nur ein, zwei Seiten lang sind und aus einigen wenigen gedrechselten, dafür aber schier endlosen Sätzen bestehen. Der Kürze des Moments steht in jedem einzelnen Satz die Dauer des Augenblicks gegenüber: die bis zum Zerreißen gespannte Erwartung. Ein Onkel, der gelähmt im Rollstuhl sitzt, schafft es trotzdem, keiner weiß wie, sich mit einem Luftgewehr zu erschießen. Ein Bruder bricht im Eis ein und ertrinkt. Ein Großvater stirbt während einer Hochzeitsfeier an Herzversagen, als ein Lastwagen in die Festgesellschaft rast, ohne jemanden zu verletzen.

Stets sind es Augenblicke, in denen etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Augenblicke, in denen Träume zerplatzen, weil die Wirklichkeit zu mächtig ist. Augenblicke, die für sich stehen und schlaglichtartig ein ganzes Leben zum Leuchten bringen.

Das bildhafte, auf den Moment ausgerichtete Schreiben hat Bernd Lichtenberg beim Film gelernt. 1966 in Leverkusen geboren, studierte er Philosophie und Religionswissenschaft, bevor er an der Kunsthochschule in Köln ein Filmstudium absolvierte. 1995 gewann er dann den Drehbuchpreis des Kultusministeriums Nordrhein-Westfalen. Doch richtig bekannt wurde Bernd Lichtenberg erst als Drehbuchautor von Wolfgang Beckers Kinokassenschlager „Good bye Lenin“.

Auch in diesem Film ging es ja um eine Parallelwelt und darum, den Entwurf der Fantasie gegen die immer aufdringlichere Wirklichkeit zu verteidigen, als der kranken Mutter, einer treuen SED-Genossin, vorgegaukelt wurde, die DDR bestehe noch weiter. Bernd Lichtenbergs Geschichten sind aber ganz anders als dieser Film: poetischer, fantastischer, sparsamer und viel weniger auf Handlung orientiert. Bernd Lichtenberg schreibt keine verfilmbaren Szenen, sondern er bewegt sich ganz flüssig und genuin im Element der Sprache.

Es sind allein die sprachlichen Möglichkeiten, die das Geschehen vorantreiben, Satz für Satz. Die kleine Form der Kurzgeschichte erlaubt gegenüber dem filmischen Schreiben, das auf so viele äußerliche und technische Bedingungen Rücksicht nehmen muss, eine absolute Freiheit. Man spürt, wie sehr Bernd Lichtenberg diese Freiheit genossen hat. Das macht auch das Lesen dieser Miniaturen zu einem wirklichen Genuss und zu einem richtiggehenden Abenteuer im dichten Wald der Möglichkeiten.

JÖRG MAGENAU

Bernd Lichtenberg: „Eine von vielen Möglichkeiten, dem Tiger ins Auge zu sehen“. Geschichten. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005, 128 Seiten, 14,90 €