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Archiv-Artikel

STEFAN KUZMANY über GONZO Das weckt den Strumpfmörder in mir

Niemand hat es bislang gewagt, dem Teufel die Flötentöne beizubringen: Er ist zehn Jahre alt und Straßenmusiker

Ich bringe ihn um. Er hat keine Gnade verdient. Er selbst kennt ja auch keine Gnade. Er ist nichts anderes als der Teufel in Menschengestalt. Früher hatte ich mir den Teufel anders vorgestellt: schick gekleidet, im Anzug, schwarzes Haar, schmeichelnd, verführend. Wie Markus Söder, nur mit zwei kleinen Hörnern. Heute weiß ich es besser. Das personifizierte Böse ist ein kleiner Junge, vielleicht nur zehn Jahre alt. Er hat blondes, kurzes Haar. Trägt Jeans, ein helles T-Shirt und Turnschuhe. Vor allem aber hat er eine Blockflöte dabei.

Als er das erste Mal auftauchte, saßen wir auf dem Balkon. Es war einer der ersten schönen Tage dieses Jahres, die Lokale in unserer Straße stellten wieder Tische und Stühle nach draußen. Es wurde endlich Sommer. „Hör mal, da spielt einer Beethoven auf der Flöte“, sagte meine Freundin. Und tatsächlich, wie passend zu diesem wunderbaren Tag: die „Ode an die Freude“. Gepresst kamen die Töne, unsicher im Ansatz, und, ja, ganz deutlich, falsch. Es waren nur die ersten Takte, die wiederholten sich, vier, fünf Runden, keine erlösende Auflösung, irgendwann einfach Schluss, mittendrin. Wir lachten. Falsch, ja, aber irgendwie auch süß.

Wir hatten den kleinen musikalischen Zwischenfall schon fast vergessen, als es nach wenigen Minuten wieder von vorne losging, etwas lauter diesmal: die Flöte hatte ihren Standort gewechselt. Ich schaute vom Balkon herab, und da sah ich den Teufel zum ersten Mal. Er sammelte gerade bei Kaffeetrinkern mit großem Herzen und/oder Gehörschaden Kleingeld ein für seine musikalische Darbietung. Das war kein Kind, das uns durch das geöffnete Fenster an seinem ersten Beethoven-Versuch teilhaben ließ. Das war ein Straßenmusikant. Wir lachten noch mal. „Na dann viel Glück, junger Mann. Du wirst es brauchen“, dachte ich. Es gibt in unserer Straße drei Lokale mit Außenbewirtschaftung. Er machte vor jeder Station. Und tut das seither jeden Tag. Am Wochenende schiebt er eine zusätzliche Mittagsrunde ein. Seither meide ich den Balkon. Manchmal, wenn ich rastlos durch die Wohnung rannte und alle Fenster schloss, fragte meine Freundin noch, was denn los sei. Mittlerweile fragt sie nicht mehr.

Gestern hatten wir ein befreundetes Paar zu Gast. Setzen wir uns doch auf den Balkon, haben sie gesagt. Die beiden haben gerade ein Kind bekommen. „Macht alles mit dem Kind“, sagte ich, „aber gebt ihm keine Blockflöte.“ – „Warum denn nicht?“, fragte der stolze Vater. Da brach es aus mir heraus. Ich musste auch einmal Blockflöte lernen. Es war kurz nach der Einschulung, wir saßen in einem Stuhlkreis und spielten „Hänschen klein“. Ich weiß noch, meine Mutter hatte mir eine rote Strumpfhose zum Drunterziehen gegeben, damit ich mich nicht verkühlte. Ich mochte die rote Strumpfhose nicht, ich mochte auch die Blockflöte nicht. Beim Schulkonzert spielte ich dann die Triangel. Die Blockflöte war lange aus meinem Leben verschwunden, bis jetzt. Ich erzählte von dem Flötenjungen und der „Ode an die Freude“, ich war aufgelöst, sie sahen mich komisch an. Da kam er wieder. Die Abendrunde!

Der bis dahin recht angenehme Abend drohte zu kippen. Meine Freundin rollte die Augen und sagte, sie müsse jetzt leider ins Bett. Der stolze Vater hatte sofort eine Theorie: Dieser Junge, ja, er spiele schrecklich, aber wahrscheinlich treibe ihn die Not dazu. Zerrüttete familiäre Verhältnisse, Eltern dem Alkohol verfallen, vermutlich trieben ihn diese jeden Tag hinaus, ein paar Kröten zu verdienen. Hass sei nicht angebracht. Eher Mitleid. Wenn ich etwas Gutes tun wolle, dann sollte ich keinen Mord begehen, sondern dem Armen Flötenunterricht vermitteln. Die letzten Töne der dritten Runde „Ode an die Freude“ waren gerade verklungen. Ich heuchelte Vernunft. Dabei hatte ich jetzt einen Plan: Ich werde ihn in unsere Wohnung locken, unter dem Vorwand, ihn zu unterrichten. Und dann werde ich den Flötenteufel erdrosseln. Mit einer roten Strumpfhose. Ich sitze auf dem Balkon. Ich warte. Bis jetzt ist er nicht aufgetaucht. Es wird ihm doch nichts passiert sein?

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