: Die Zeitzünder in unseren Köpfen
Terroranschläge machen uns höllisch Angst – auch wenn die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering ist, ihnen tatsächlich zum Opfer zu fallen. Grund dafür ist nicht eine reale Bedrohung, sondern die Wahllosigkeit der Attentäter
AUS BERLIN KAI BIERMANN
Nach einem Bericht des römischen Schriftstellers Cicero lebte am Hofe des Tyrannen Dionysos von Syrakus einst ein Günstling, der seinen Herrscher für dessen Einfluss pries. Bei einem Festmahl hieß der Tyrann diesen Damokles, auf seinem Thron Platz zu nehmen. Dabei sah dieser ein großes Schwert, das nur von einem Rosshaar gehalten, über seinem Kopf hing. Dionysos wollte ihm die Gefahren verdeutlichen, die einem Tyrannen drohen, so mächtig er auch sein mag.
Leben ist riskant. Weiß jeder. Und hält kaum jemanden vom Leben ab. Denn etwa nicht die Tatsache macht uns Angst, dass es Risiken gibt, sondern die Zufälligkeit, mit der sie zuschlagen. Wenn der gemeine Mitteleuropäer rational dächte, müsste er zum Beispiel Terroristen kaum fürchten. Im Vergleich zu den vielen Menschen, die in Europa leben, ist (trotz „einheimischer“ Terror-Organisationen wie ETA oder IRA) die Zahl der Opfer terroristischer Anschläge verschwindend gering. Und damit auch das theoretische Risiko, von einem Attentat getroffen zu werden. Laut Statistik starben zwei von 100.000 Europäern auf diese Art – in den vergangenen 25 Jahren. Vom Auto überfahren werden 11 von 100.000. Jährlich. Aber kaum jemand fürchtet sich davor, die Straße zu überqueren.
Menschen sind nicht rational, und Terroristen wissen das. Die Furcht, Opfer eines Attentats zu werden, wächst stetig, auch wenn es kaum jemanden trifft. In der jährlich von der R+V-Versicherung erhobenen Studie „Die Ängste der Deutschen“ ist sie inzwischen auf Platz fünf vorgerückt. Andere Untersuchungen bestätigen das Bild. Ende der 90er-Jahre war sie nicht einmal unter den ersten zehn.
Lottospielen hat viel damit zu tun. Streng genommen die Erwartungen, die Menschen hegen, wenn sie Dinge wie das Lottospielen tun. Die Auswahl der Gewinnzahlen folgt keinem erkennbaren Prinzip, sie ist zufällig und unabhängig von den Fähigkeiten oder Voraussetzungen des Spielers. Die Tatsache, dass kaum jemand gewinnt und die Siegchance statistisch aberwitzig klein ist, schreckt keinen ab. Menschen sind so.
Leider folgen immer mehr Terroristen genau dem gleichen Prinzip. Die Täter wollen nicht Politiker oder Wirtschaftsbosse treffen. Religion, Besitz oder Hautfarbe ihrer Opfer sind ihnen gleichgültig. Ihr Ziel ist der Jedermann. Genau diese Beliebigkeit ist es, die Angst macht. Wie beim Glücksspiel ist es unerheblich, wie viele Menschen tatsächlich getroffen werden oder wie oft die Täter zuschlagen.
Der Risikoforscher Ortwin Renn nennt es den „umgekehrten Lottoeffekt“, der den Terror verursache: „Beim Lotto muss ja irgendeiner gewinnen, also denkt jeder, warum soll ich es nicht sein. Bei Anschlägen ist es ähnlich: Einer muss ja verlieren, also kann es auch ich sein.“
Das habe nichts zu tun mit einem reellen Risiko, sondern mit Wahrnehmungspsychologie, sagt Renn, der lange Chef der Akademie für Technikfolgenabschätzung war und jetzt als Professor an der Uni Stuttgart den Bereich Technik- und Umweltsoziologie leitet.
Als Beispiel nennt er die Hysterie um die Rinderkrankheit BSE, die bei Menschen zu einer bestimmten Form der tödlichen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit führen kann. Kann, wohlgemerkt. Laut Renn ist das „Lebensrisiko BSE“ extrem gering. In den letzten 25 Jahren seien dadurch in Europa 130 Menschen gestorben. „Die Angst, die jedoch davor grassierte, war enorm“, sagt Renn. „Mehr als 20 Prozent der Bevölkerung haben wirklich Maßnahmen ergriffen, um sich davor zu schützen. Solche Zahlen haben wir sehr selten.“ In der gleichen Zeit seien auch 143 Menschen gestorben, weil sie das Öl von Duftlampen getrunken hätten. Das Risiko des tödlichen Öls sei seit langem bekannt, so Renn. „Dennoch ist es kein öffentliches Thema und kein Mensch hat Angst vor dem Trinken von Lampenöl.“
Das Muster ist wichtig: „Wenn etwas zufällig treffen kann und niemand weiß, wer der nächste ist, steigt die Besorgnis.“ So etwas führe bei Menschen „zu einer fast mythologischen Angst“, so Renn. Das Risiko werde zum Damoklesschwert, das über allen schwebe. Wie bei der Kernenergie. „Oder wie beim Drachen, dem man einmal im Jahr eine Jungfrau opfern muss und keiner weiß, welche es sein wird – die Unsicherheit ängstigt die ganze Gemeinschaft.“
Die Zahl der Toten sage dagegen relativ wenig darüber aus, wovor sich die Leute fürchteten. Die im Sinne eines Kampfziels eigentlich sinnlosen und unberechenbaren Anschläge auf U-Bahnen und Busse nutzen genau diesen psychischen Mechanismus aus. Offensichtlich erfolgreich.
Dagegen helfe auch keine Aufklärung über die reelle Gefährdung, so der Risikoforscher. Mit sehr viel Geld das tatsächliche Risiko der Kernenergie „um eine weitere Zehnerpotenz nach unten zu schieben“, ändere nichts an der Furcht der Menschen vor der Technologie. Viel wichtiger sei es, ihnen das Gefühl zu geben, sie würden früh genug gewarnt. Dann nämlich hätten sie den Eindruck, sich in Sicherheit bringen und etwas tun zu können.
Denn ganz so einfach ist Psychologie auch nicht. Nicht nur die Zufälligkeit spielt eine Rolle, sondern auch die so genannte Kontrollüberzeugung. Das hat etwas mit unserer Evolution zu tun, und dass wir früher viel gegen Löwen und anderes Viehzeug kämpfen mussten. Oder, wie es Renn formuliert: „Wenn ich einer Gefahr ins Auge blicken kann, sehe ich sie viel gelassener.“ Vor allem, wenn man das Gefühl habe, sie beherrschen zu können. „Im Flugzeug bekommen sie Angst, wenn es schwankt. Im Auto nicht, da meinen sie, dass sie alles im Griff haben.“ Der Glaube an die eigene Kontrolle über die Situation sei wichtig, sagt Renn.
Früher habe man alles als Strafe Gottes begriffen und gleichzeitig dem göttlichen Ratschluss absolut vertraut. Die enormen Lebensrisiken zum Beispiel des Mittelalters hätten sich dadurch gut meistern lassen. Heute jedoch vertraut kaum noch jemand auf Gott, außer dem Wetter gilt fast alles als beeinflussbar.
Dieser Einstellung tragen auch Politiker Rechnung, wenn sie nach Attentaten reflexhaft neue Sicherheitsmaßnahmen ankündigen. „Dieser Aktionismus ist vom objektiven Standpunkt aus irrational“, sagt Renn. „Doch er ist sinnvoll, da er die Wut, nichts tun zu können und damit das subjektiv empfundene Risiko mindert.“
Ein Nachteil der an sich selbst glaubenden Gesellschaft ist es nun einmal, dass das gefühlte Risiko sehr hoch ist, auch wenn die tatsächlichen Gefahren immer kleiner werden.
Das Leben in Mitteleuropa war noch nie so sicher wie heute. Statistisch gesehen. Allein in den vergangenen 20 Jahren ist das allgemeine Lebensrisiko um 32 Prozent gesunken. Deutliches Zeichen dafür ist die immer weiter steigende Lebenserwartung. Risikoforscher Renn rät daher zu mehr Gelassenheit. Ab und zu an das Schicksal oder den Zufall zu glauben, sei durchaus erleichternd. Vielleicht also haben die Briten genau das Richtige Motto gewählt, um mit dem Terrorismus fertig zu werden: business as usual.