: „Für mich war das aus der Not geboren“
VERBRECHEN & STRAFE Von seinem ersten Einbruch will er noch Kaugummi kaufen. Doch schon bald wird das Geld für Richard Horn Ersatzdroge. Er bricht ein, kommt ins Gefängnis, bricht aus, bricht wieder ein. Der erste Bankraub ist ganz spontan. Eine Lebensgeschichte
VON TARIK AHMIA
Richard Horn ist ein Mordskerl: 1,92 Meter groß, muskulös wie ein Ringer und kein einziges graues Haar im vollen Schopf. Kaum ein Hinweis darauf, dass Horn bald 60 Jahre alt wird. „Gefährlich, bewaffnet, schießt sofort“ lautete die Beschreibung, die dem notorischen Schwerverbrecher vorauseilte. 19 von 27 Jahren Gefängnis verbüßte Horn allein wegen Banküberfällen, davon viele Jahre in Hochsicherheitstrakten. Immer wieder ist er ausgebrochen. Wie, das bleibt bis heute Horns Geheimnis, dessen wahrer Name in dieser Geschichte nicht auftauchen wird.
Heute lebt der einstige Schwerverbrecher legal in Freiheit – seit sieben Jahren hat er sich nichts zuschulden kommen lassen. In Niedersachsen fing er ein neues Leben an, hat sich hochgearbeitet und verdient sein Geld als Fernfahrer. Doch so aufgeräumt, wie es die bürgerliche Fassade seines Viertels bei Osnabrück mit Haus und Garten vermuten lässt, ist sein Leben bis heute nicht.
Erst als längst erwachsener Mann gelingt es Horn, die Traumata abzuschütteln, die ihn seit seiner Kindheit verfolgen und den Weg zum gefürchteten Gewalttäter beeinflusst haben. An der Spitze seines langen Strafregisters stehen Banküberfälle, die in Filmen gerne als Gentleman-Taten verklärt werden. Doch das hat mit der Realität nicht viel zu tun, sagt Richard Horn: „Der Mythos rund um Bankräuber ist eine reine Märchenwelt“, sagt der ehemalige Berufsverbrecher. „Ich weiß, was dahintersteckt. Ich weiß, was es mit mir gemacht hat.“ Kein Bankräuber, den er aus der Haft kennt, stelle seine Tat als Abenteuergeschichte dar. „Wer solche Aktionen macht, handelt in Panik. Das sind Verzweiflungstaten, weil sie die Miete nicht bezahlen können oder pleite sind. Sie hoffen auf das schnelle Geld.“
95 Prozent aller Bankraube werden nach Angaben des Bundeskriminalamtes von Männern begangen, in zwei Dritteln aller Fälle drohen die Täter mit einer Schusswaffe. Der klassische Bankraub ist in der Regel ein vergleichsweise dilettantisch durchgeführtes Verbrechen. 40 Prozent aller Bankräuber bereiten ihre Tat weniger als einen Tag lang vor, hat das BKA ermittelt. Die Befragung verurteilter Bankräuber offenbart auch ihr Hauptmotiv: Fast 60 Prozent von ihnen geben hohe Schulden oder Arbeitslosigkeit als Grund für ihre Tat an. „Unlust zu arbeiten“ nennen gerade einmal zwei von 154 Befragten als Motiv.
Die Chance, mit einem Bankraub straflos davonzukommen, ist gering: 70 Prozent aller Überfälle auf Banken und Postfilialen werden aufgeklärt. Für die Geschichte von Richard Horn sind solche Zahlen ohne großen Belang. Seine kriminelle Karriere zeichnet sich schon früh ab. Horns Kindheit ist von Armut, Aggression und Gewalt geprägt. Das Haus der Familie steht auf einer ehemaligen Mülldeponie. Ratten im Wohnzimmer sind nicht selten.
Mit sechs Jahren reißt er zum ersten Mal von zu Hause aus, nachdem ihn seine Mutter an die Heizung gekettet hat. Wenn der Vater mal daheim ist, tritt er brutal auf. Es sind die Fünfzigerjahre. Das Umfeld schaut weg. Mit acht Jahren lassen die Eltern das wilde Kind vom Jugendamt ohne Ankündigung abholen. Mehr als zwei Jahre verbringt er in einer „freiwilligen Heimerziehung“. Dort, im ostfriesischen Schillig, wird Richard sexuell missbraucht. Mit 12 Jahren hat er 35 Einträge im polizeilichen Führungszeugnis, meist als Autoknacker. Kaum strafmündig, landet er im Gefängnis. Horn bekommt 18 Monate Jugendhaft, weil er bereits mit 15 Jahren am großen Rad drehen will: Zusammen mit älteren Kumpanen knackt er mit Kernbohrer und Schweißgerät den massiven Panzerschrank einer Auslieferungsfirma in Dortmund.
„Auf einmal hatte ich 100.000 Mark und wusste nicht, was ich damit machen sollte. Am liebsten hätte ich mir Kaugummi gekauft. Ich war so naiv.“ Horn findet Geschmack am Verbrechen. „Durch meine Straftaten wusste ich, wie ich einfach zu Geld komme, ohne mich groß anzustrengen.“ Es war sehr bequem. Der Anstaltsleiter seiner ersten Jugendhaft verabschiedet ihn mit den Worten: „Richard, für dich sehe ich schwarz.“ Er sollte für lange Zeit recht behalten.
In den nächsten 25 Jahren werden Gefängnis und Überfälle zu zuverlässigen Größen in seiner Biografie. Ein Teufelskreis. Die Strafen summieren sich zu immer längeren Haftzeiten für Einbrüche und Diebstähle. Insgesamt fünfmal bricht er aus. Immer wieder kehrt er an den Ort zurück, wo er als Kind missbraucht wurde. „Meine Reisen nach Schillig waren immer wieder Auslöser, etwas Kriminelles zu tun. Ich habe total falsch entschieden, weil ich niemanden hatte, mit dem ich reden konnte“, sagt Horn heute.
Als er 1980 wieder einmal auf der Flucht ist, überfällt Horn seine erste Bank. Ein spontaner Entschluss. Horn betritt mit einer Waffe in der Hand die Volksbank am Braunschweiger Bahnhof. „Für mich war das aus der Not geboren.“ Er bedroht die Kassiererin. Der Moment hat sich auch in seine Erinnerung eingebrannt. „Ich glaube, ich hatte mehr Herzklopfen als die Frau. Wenn sie gesagt hätte: ,Schieß doch, wäre ich gegangen.“ Horn hält eine Schreckschusspistole in der Hand.
„Was ich da für einen Schaden angerichtet habe, habe ich erst sehr viel später begriffen. Damals wäre ich zu allem fähig gewesen, nur um aus meiner persönlichen Situation zu flüchten“, sagt Horn. Er erbeutet ein paar tausend Mark und entkommt zu Fuß. Das Geld hilft ihm nicht nur zu überleben, es wird für Horn zu einer Ersatzdroge. „Ich habe zwar wenig erlebt von der Freiheit, aber was ich erlebt habe, war intensiv, teilweise exzessiv. Geld hat mir eine subjektive Freiheit gegeben, auch wenn ich mich beschissen gefühlt habe.“
„Eigentlich hatte ich kein Verhältnis zum Geld. Spannend war es vor allem, daranzukommen. Aber sobald ich es gestohlen hatte, war es für mich uninteressant.“ Oft gönnt sich Horn Reisen rund um den Globus. „Die Welt stand mir offen. Ich konnte mir das Hotel aussuchen. Acapulco, Buenos Aires, Mexiko, Argentinien, Bolivien und Venezuela – das muss man doch mal sehen.“ Aber nach 14 Tagen war er immer wieder zurück in Deutschland, um das nächste Ding zu planen.
Kurz nach dem Banküberfall in Braunschweig spüren Zielfahnder Richard Horn auf. Er wird zu acht Jahren Haft im Hochsicherheitsgefängnis Celle verurteilt. „Da wirst du mit Menschen und Straftaten konfrontiert, von denen du früher nur in der ‚Praline‘ gelesen hast. Dort hat bei mir eine innerliche Verrohung stattgefunden. Als ich freikam, habe ich die Dinge nicht mehr abgewogen.“ Nach seiner Entlassung 1989 ist Horn zu allem bereit.
Er besorgt sich eine großkalibrige Waffe, eine amerikanische Pumpgun, und streift im Auto mit einem Komplizen umher. Als sie an der Sparkasse im westfälischen Bramsche vorbeifahren, sagt sein Gefährte: „Hier, guck mal: Da sind nur zwei Leute drin, die könnte man auch kapern.“ Sie erbeuten 36.000 Mark. Kurze Zeit später wollen sie die Aktion bei einer benachbarten Volksbank wiederholen. Doch die beiden Kriminellen verhalten sich so auffällig, dass die Angestellten die Eingangstür abschließen. Als sie mit ihrer Pumpgun konsterniert vor der verschlossenen Bank stehen, ist die Polizei schon im Anmarsch. Nach einer wilden Verfolgungsjagd werden sie verhaftet – Horn hat die Waffe im entscheidenden Moment niedergelegt. Diesmal gibt es 14 Jahre Gefängnis.
Er kommt erneut in das brutale Umfeld der Haftanstalt Celle. Horn gilt als kriminell verfestigt, als jemand, der weder fähig noch willig zur Therapie ist. Doch das Blatt wendet sich, als er im Gefängnis den Psychoanalytiker Peter Schulz trifft. Von ihm lernt Horn, mit seinen Emotionen umzugehen. Vor allem mit negativen. Der Therapeut ist der erste Mensch, der Horn wirklich helfen kann. „Peter Schulz durfte zum ersten Mal in meine Seele schauen.“
Horn beginnt eine Sozialtherapie, die fast zehn Jahre dauern soll. „Ich war 43 Jahre alt und fing zum ersten Mal an, über mich und mein Leben nachzudenken. Plötzlich brach so viel in mir auf, dass ich von mir selbst erschrocken war. Ich gab mein Leben komplett preis, weil ich etwas ändern musste. Es war die Hölle.“ Horn wird im Jahr 2002 entlassen. „Ich habe gelernt, vor meinen Gefühlen nicht mehr wegzulaufen“, sagt Horn heute sanft und wirkt dabei fast selbst wie ein verständnisvoller Therapeut.
Mit seiner Familie hat er sich ausgesöhnt. „Man muss verzeihen können“, sagt Horn. Auch wenn er als Fernfahrer für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen kann, glaubt er sich heute noch nicht am Ende seines Weges. „Ich möchte mit gefährdeten Jugendlichen arbeiten, die ähnliche Erfahrungen mit Gewalt und Kriminalität erlitten haben wie ich.“
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