berliner szenen: Gelenkter Strom übers letzte Eis
Um 10.30 Uhr stehe ich samstags auf der Brücke am Westhafen. Hier bin ich mit einer befreundeten Familie verabredet. Die Sonne knallt, der Himmel bläut, das Handy gibt ob der Temperaturen alle Verantwortung ab und streikt. Wir finden uns dennoch. Das Ausflugsziel: Plötzensee. Auf dem Weg kommentiert A. die schwarze Deckschicht der schmalen Schneestreifen zwischen Straße und Gehsteig: „Der Schnee ist die Leinwand, die uns die fiese Fratze der fossilen Automobilität zeigt“, sagt er. Nicken. Als wir da sind, ist es ein Leichtes, auf den vereisten See zu gelangen. Menschen auf Zäunen, um Zäune und unter Zäunen hindurch weisen den Weg. Auf dem Eis plaudern und rutschen Erwachsene, Kinder rutschen und testen die Dicke des Eises und die Nerven der Eltern. In gelenktem Strom bewegen sich die Massen übers Eis.
Die ans Strandbad grenzende Seite des Sees bleibt unberutscht, alle bleiben lieber auf der Nordseite. Gibt es Informationen über diese andere Seite – über dort lauernde Gefahren? Oder werden wir gerade Zeuginnen unserer Schwarmintelligenz? „Ich gehe einfach da lang, wo du langgehst, dann wird es schon gut gehen“, scheint unser Credo.
Ein Stück weiter hat die Eisdecke ein Loch, vor dem sich eine Schlange gebildet hat. Nackt, nur bedeckt mit Mütze, steigt einer nach dem anderen hinab zum Baden. Der Trend verlangt den Anhängerinnen Freude am unsubtilen Gesehenwerden ab – die Massen stehen um die Eislöcher und gucken zu. Wir gehen weiter. Manchmal knackt es unter den Füßen. Macht nichts – die Gefahr, baden zu gehen, ist Wellness geworden. Dieselbe kollektive Intelligenz, die uns sicher übers Wasser bringt, zieht uns am Ende des Sees von der Eisfläche über den Zaun und die Rehberge hinauf. Dann schubst sie uns auf Schlitten den Berg hinab.
Lisa Häfner
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