berliner szenen
: Das Märchen vom Reisen

Noch nie sind wir so viel spazieren gegangen. Doch die Stadt wird nicht schöner dadurch. Ecke Prenzlauer/Saarbrücker fragen wir uns, ob Liebknecht und Pieck beim Treffen des Revolutionsausschusses in Bötzows Biergarten echt auf den Biertisch gestiegen sind. Babsi kann nicht fassen, dass der Biergarten Platz für sechstausend Gäste bot. Heute ist da Baustelle, und auf dem Pieck-Gedächtnis­hinkelstein klebt ein Obelix. Babsi übt für ihre historische Kieztour für nach Corona.

Vor dem Eingang zu Bötzows Villa, von der nur noch das Pförtnerhäuschen übrig ist, staunen wir über den Stamm eines Essigbaums. Der Efeu hat tiefe Rillen in der Baumrinde hinterlassen. Der freundliche Pförtner erklärt, was hier Tolles entsteht: ein John Reed der Extraklasse mit Spalandschaft in den ehemaligen Kühlkellern der Brauerei, Wohnungen, Geschäfte, ein Biergarten mit tausend Plätzen. Bloß tausend?

Anderntags nimmt uns das Schaufenster eines Tattoo-Studios in der Brunnenstraße gefangen. „Achtung: Tattoos machen süchtig!“, steht da. Ob das stimmt? Mit dem Bier in der Hand laufen wir die Choriner rauf. Matti erzählt Gentrifizierungs­ge­schichten, kennen wir schon. Dann wird’s interessant. Es geht ums Reisen in Fernost. Ein Raunen geht durch die Gruppe: Ach, Reisen! Einmal fuhr Matti von Vietnam nach Laos. Statt Touristen nur noch einheimische Bauern, matschige Wege, Ochsenkarren, Getreide und Früchte in Körben und Kinder, die sich um ihn scharten, als wäre er ein Alien, mit seinem schulterlangen blonden Haar, den blauen Augen, der fremden Sprache und Gestik. Die einfachsten Dinge ließen sich nicht kommunizieren. Also fing er an, Fragen und Bedürfnisse auf Zettel zu zeichnen: Bett, Dusche, Futtern. Gebannt lauschen wir seinen Erzählungen wie einem Märchen. Sascha Josuweit