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Archiv-Artikel

Frontlinie gegen fortschreitenden Baumraub

AMAZONAS Armut, Agrobusiness und Korruption bedrohen die Regenwälder des Amazonasbeckens. Der Jurena-Nationalpark soll den Wald schützen, doch die rigiden Auflagen machen den dort Wohnenden zu schaffen

„Wie soll ich hier leben, wenn ich nicht fischen und keine Pflanzung anlegen darf?“

SEVERINO COELHO

TEXTE UND FOTOS WERNER RUDHART

Die Idylle dauert nicht einmal eine halbe Stunde. Beim Ablegen vom Dorf durchdringt die Sonne den letzten Frühnebel und zeichnet Wald und Wasser in feinsten Farben. Ein Stück weiter flussaufwärts passiert das Boot eine Gruppe von Tuiuiú-Störchen auf einer Sandbank. Sie stecken ihre langen schwarzen Schnäbel zusammen, als gälte es zu beraten, was mit diesem noch frischen amazonischen Morgen anzufangen sei. Die vier Männer in den drei Booten tauchen unvermittelt hinter der ersten Flussbiegung auf. Hastig holen sie die Angelleinen ein und starten ihre Motoren. Doch Bootsmann Simar Corréia manövriert sich geschickt in die Fluchtlinie und dreht bei. „Sie sind hier im Nationalparkgebiet“, ruft die junge Frau mit dem WWF-Logo auf der Schildmütze, „und sollten wissen, dass Fischfang hier verboten ist.“ Man angle doch nur zum Spaß, beteuern die vier, eine glatte Lüge angesichts der großen Kühltruhe samt Stromgenerator auf einem der Boote. Als der Ton der Männer in den Tarnklamotten schließlich bedrohlich wird, legt Simar sofort ab.

Als zuständige Frau für die „Feldkommunikation“ des WWF hat Denise Cunha keine offizielle Befugnis hier am „Zipfel von Apiacás“. Auf der Landzunge im Dreiländereck der brasilianischen Bundesstaaten Mato Grosso, Pará und Amazonas, wo der Rio Juruena und der Teles Pires sich vereinigen zum Rio Tapajós, einem der wichtigsten Nebenflüsse des Amazonas, gibt es nichts, das auf die Existenz eines Nationalparks hinweisen würde.

Der Vorfall an der Mündung des Juruena ist nur ein unbedeutendes Scharmützel auf einem Nebenschauplatz der großen Schlacht, die zurzeit ein Breitengrad weiter südlich geschlagen wird. Seit der Juruena-Nationalpark im Juni 2006 von der Regierung ausgewiesen wurde, ist er mit seinen über 1,9 Millionen Hektar Fläche einer der strategisch wichtigsten Teile im Schutzgebietmosaik des Arpa-Programmes (Amazon Region Protected Areas): ein Megakorridor aus Nationalpark, Indianerterritorien und Naturreservaten, der den von Süden heranrückenden „Bogen der Entwaldung“ aufhalten soll. Über 1.000 Kilometer lang ist die Frontlinie, an der Armut, Agrobusiness und Korruption auf dem Vormarsch gegen die Regenwälder des Amazonasbeckens sind.

Wo vom Wald nur noch eine Ahnung bleibt

Wem die militärischen Ausdrücke übertrieben erscheinen, der wird auf der 200 Kilometer langen Fahrt von Alta Floresta nach dem Städtchen Apiacás im Norden von Mato Grosso eines Besseren belehrt. Zu beiden Seiten der holprigen Staubstraße ist vom Urwald meist nicht mehr als eine grüne Ahnung hinter endlosen Viehweiden geblieben. Neben den verkohlten Resten umherliegender Baumstämme leuchten im Gras die weißen Buckel der Zebus. Wo einmal Bäche liefen, halten sich an sumpfigen Gräben noch Widerstandsnester von zerfledderten Buritipalmen. Allein den Paranussbäumen hat man hier und da Gnade gewährt.

„Tonnenweise wurde das Gold hier rausgeholt“, erinnert sich Luiz Crestani, zwischen 50 und 100 Kilo täglich allein in der Mine, für die er damals gearbeitet hat. Fast 70.000 Menschen trieben sich vor 25 Jahren hier herum, als Mato Grossos nördlichste Gemeinde inmitten eines Goldrauschs entstand. Heute zählt die Stadt noch nüchterne 6.300 Seelen.

Am späten Nachmittag besprenkeln Tanklaster die unbefestigten Straßen mit Wasser, dann versinkt Apiacás in Staub und Nacht. Während Luiz erzählt, rollt sein Taxi durch das ausgestorbene Zentrum. In der Rua das Velhas, da, wo die Goldsucher ihren schnellen Reichtum noch schneller wieder loswurden, ist gerade mal einer der Animierschuppen geöffnet. „Honig, süßer Honig“ verheißt aus dem Off ein Hit der Band Calypso. An diesem Abend ein offensichtlich leeres Versprechen.

Das klassische Drehbuch der Plünderung

Von Anfang an hat Apiacás versucht, seine Geschichte gemäß dem für die wilde Plünderung Amazoniens schon klassischen Drehbuch zu gestalten. Nach dem Gold waren zunächst die Edelhölzer dran. Anschließend begannen die Viehzüchter dem restlichen Wald zu zeigen, was eine Harke ist.

Dann kam plötzlich der Nationalpark. Von einem Tag auf den anderen war die Gemeinde fast die Hälfte ihres riesigen Territoriums los, und am nächsten Tag machte eine Operation von Polizei und Umweltbehörden praktisch alle 25 Sägewerke dicht.

„Die Menschen hier fühlen sich verraten“, nimmt Pfarrer Nelson Raimann seine Gemeinde in Schutz. „Sie dachten, dass sie den Fortschritt bringen, und haben nicht gemerkt, wie sehr die Welt sich inzwischen verändert hat.“

Von der Flussmitte aus betrachtet zieht der Wald vorbei wie eine endlose Fototapete: links ist Mato Grosso, rechts Amazonas. Eine fast lächerliche Feststellung, wenn man bedenkt, dass es bis zur nächsten Stadt im Süden, Apiacás, 150 Kilometer undurchdringlicher Urwald sind und bis zur nächsten Straße im Norden, der Transamazônica, zwei Tagesreisen auf dem Wasser. Zugleich aber ist es eine der ganz wenigen Gewissheiten, die es hier gibt.

Der erste Versuch einer wissenschaftlichen Annäherung an das Juruenagebiet nahm 1829 ein tragisches Ende. Auf seiner acht Jahre dauernden Forschungsreise von Rio de Janeiro zum Amazonas raubten unmenschliche Strapazen und Fieber dem deutsch-russischen Arzt und Naturforscher Georg Heinrich Freiherr von Langsdorff inmitten der Stromschnellen des Rio Juruena für immer das Gedächtnis und den Verstand. Von den 39 Teilnehmern an dem Abenteuer überlebte nur ein Dutzend.

Im Jahr 2008 wagte eine vom WWF mitorganisierte Expedition die ersten Schritte in die bis dahin praktisch unbekannt gebliebene Welt des Juruena-Nationalparks. Der Ornithologe des Teams zählte dabei über 400 Vogelarten. Im Fluss begegneten die Wissenschaftler rosaroten Amazonasdelfinen und im Geäst bei Vollmond einer Gruppe von Nachtaffen. Was die Fauna der Region anbelangt, gelang der Expedition noch der Beweis einer weiteren, nicht unbedeutenden Tatsache: So wie die ganze Amazonasregion, so ist auch der Juruena-Park nur scheinbar ein menschenleerer grüner Fleck auf der Landkarte.

Abrupt bricht die grüne Wand auf und gibt den Blick frei auf ein Lehmhaus im Schatten mächtiger Babaçupalmen. Im kühlen Halbdunkel der Hütte leuchtet blank gescheuertes Küchengeschirr aus Aluminium wie ein Silberschatz. Severino Coelho, klein, aber trotz seiner 67 Jahre erstaunlich kräftig, hat an einem klobigen Holztisch Platz genommen. Sichtlich verlegen reibt er mit schwieligen Händen den Schnurrbart und macht dann seinem Ärger Luft: „Wie soll ich hier leben, wenn ich nicht fischen und keine Pflanzung anlegen darf und kein Holz schlagen soll, wenn ich welches brauche?“ Severino ist hier am Rio Juruena geboren. Ein waschechter Caboclo mit indianischer Mutter, der Vater ein Kautschukzapfer aus dem Nordosten. „Eines ist sicher“, beharrt er mit Nachdruck, „mit leeren Händen gehe ich hier nicht weg, falls sie uns vertreiben.“

Auf seinem Weg von den Ausläufern der Hochebenen des Mato Grosso hinunter zum Amazonasbecken bahnt sich der Rio Juruena seinen Weg über mehr als 20 Stromschnellen und Wasserfällen. Dabei formt er eine Flusslandschaft, die zu den schönsten Naturszenarien Amazoniens zählt.

Über den spektakulären Salto Augusto donnert der Fluss in zwei großen Fällen auf einer Breite von 250 Metern bis zu 15 Meter in die Tiefe. Eine Besonderheit ist das klare, in der Sonne smaragdgrün schimmernde Wasser des Juruena. Zusammen mit den Sandstränden, die bei Niedrigwasser die Ufer säumen, ruft es karibische Assoziationen hervor. Die auf Felsgestein zu weißen Kristallen erstarrten Algen dagegen erwecken im ersten Licht des Tages den Eindruck, als wäre in der Nacht ein Schneesturm über den Wald gefegt.

Simar Corréia zieht das Boot in weiten Schleifen den Fluss hinunter, denn er kennt alle Stromschnellen und Untiefen. Er weiß, wie man zu im Dschungel versteckten Höhlen findet oder wo an den mit Orchideen überwucherten Sandsteintürmen neben dem Salto São Simão Felszeichnungen zu finden sind. Seit der Nationalpark ausgewiesen wurde, ist der bedächtige Mann mit den indianischen Gesichtszügen immer häufiger mit Besuchern durch seine Heimat unterwegs. Naturschützer hauptsächlich, Forscher und Journalisten. Doch Simar hofft, dass er mit seinem Boot bald mehr und mehr Touristen transportieren wird. „Der Park darf uns nicht nur einschränken, er sollte uns auch etwas bringen“, brüllt er in den Lärm des Außenbordmotors.

Wer nie zu viel nimmt, der hat ewig

„Fazenda Colares“ steht auf der schiefen Tafel über dem Ufer, genau an der Stelle, wo Pedro Colares vor 51 Jahren mit seiner fünfköpfigen Familie an Land ging. Heute leuchtet der Rio Tapajós bereits im satten Licht der Abendsonne, als der kleine alte Mann mit lässigen Bewegungen sein Kanu auf den Sand zieht. Um ihn herum spielt eine ausgelassene Kinderschar am Wasser. Wie viele Enkel und Urenkel genau er hat, kann Senhor Pedro nicht mit Bestimmtheit sagen. Acht Söhne und fünf Töchter zählt er auf, alle leben sie hier mit ihren Familien, zusammen um die 130 Leute.

Nachdem zwei große Pfauenbarsche in die Küche gewandert sind, hat er Zeit zu erzählen. Von der Arbeit auf den „Kautschukpfaden“ im nächtlichen Dschungel und vom Transport der geräucherten Latexballen den Tapajós hinunter und weiter auf dem Amazonas nach Belém do Pará, 30 Jahre lang, bis es sich nicht mehr lohnte. Wie sie dann anfingen, das wertvolle Öl der Copaíbabäume zu zapfen und Paranüsse zu sammeln, und wie einer seiner Söhne dabei in einem Rinnsal auf Gold stieß.

Das waren schwierige Zeiten, scharenweise drangen Goldsucher in das Land der Colares ein. Anstatt auf Konfrontation hat Pedro auf Zeit gesetzt. Und als die Goldmenge geringer wurde, sind die Invasoren auch wieder abgezogen. „Jetzt betreiben wir die wohl einzige Familiengoldgrube am Amazonas“, sagt der rüstige Patriarch mit einem verschmitzten Lächeln: „Wer nie zu viel nimmt, der hat ewig, das gilt hier im Dschungel für alles.“

Inzwischen hat irgendwo ein Dieselmotor zu rattern begonnen, Glühbirnen flackern auf, und der Duft der gebratenen Fische zieht durch das Stammhaus der Sippe. Um ein Fernsehgerät versammeln sich Frauen und Kinder zur abendlichen Telenovela. Durch das Fernsehen erfuhr Seu Pedro auch von der Ausweisung des Nationalparks, und seit er weiß, dass die 40 Quadratkilometer seiner Fazenda nicht dazugehören, hat er seinen Frieden damit gemacht: „Bisher haben wir allein darum gekämpft, dass hier alles so bleibt, wie es ist, jetzt werden wir einen Verbündeten haben.“

Nach dem Essen, als Motor und Bildschirm schlagartig verstummen, ist nur das Murmeln des Tapajós zu hören. „Wir Menschen sind hier nicht einfach zu Gast“, sagt der 80-jährige Caboclo. „Wir sind ein lebendiger Teil des Waldes.“