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Archiv-Artikel

Hinter dicken Mauern

GEDENKSTÄTTE Zwangsarbeiter litten hier, Ulrike Meinhof recherchierte hier für ihren Film „Bambule“: Besuch in Breitenau, einem heimlichen Zentrum der Documenta

Leise anfängliche Zweifel zerstreuen sich rasch. Die Tour nach Breitenau schärft die Wahrnehmung

VON CRISTINA NORD

Ein Esslöffel mit stecknadelkopfgroßen Löchern. Wozu soll das gut sein? Weit hinten im Nordflügel des Kasseler Hauptbahnhofs, in der Dreikanalvideoinstallation „Muster“ von Clemens von Wedemeyer, taucht der rätselhafte Gegenstand kurz auf. Ein paar hundert Meter weiter, im Parterre der Handwerkskammer, ist erneut die Rede von ihm: In „The Workhouse: Room 2“, einer Arbeit von Ines Schaber und Avery F. Gordon, sieht man Landschaftsfotografien neben Texttafeln; auf einer werden die Löcher erklärt. Ein Häftling des Straflagers Guxhagen-Breitenau hat sie in den Löffel hineingebohrt, „um feste Bestandteile aus der Suppe zu fischen“.

Carolyn Christov-Bakargiev, die Leiterin der Documenta 13, hat das einstige Konzentrations- und Straflager Guxhagen-Breitenau zu einem der heimlichen Zentren ihrer Ausstellung erklärt. Alle Künstler, so ihr Wunsch, sollten dem 15 Kilometer südlich von Kassel gelegenen Dorf einen Besuch abstatten und sich seiner wechselvollen Geschichte aussetzen. Einige von ihnen, neben von Wedemeyer, Schaber und Gordon zum Beispiel Judith Hopf und Sanja Ivekovic, beziehen sich in ihren Arbeiten direkt darauf, und Gunnar Richter, der Leiter der Gedenkstätte Breitenau, zeigt in einem der Holzhäuschen in der Karlsaue historische Fotografien, Zeitungsausrisse und Aktenblätter zum Thema. Außerdem präsentiert er eine Ton-Dia-Show, die er Anfang der 80er Jahre zusammenstellte.

Damals fing die Auseinandersetzung mit Lokalgeschichte, mit den konkreten Ausprägungen des NS-Regimes gerade erst an, es galt, viele Widerstände zu überwinden. Die Ton-Dia-Schau führt das vor Augen, etwa indem sie darauf hinweist, dass der Opfer eines Massakers, das die Gestapo in der Nacht zum Karfreitag 1945 an 28 Häftlingen verübte, auf allzu unspezifische Weise gedacht wurde: Bevor die Gedenkstätte gegründet wurde, war alles, was an die Toten erinnerte, ein Gedenkstein mit der Inschrift „Sie ruhen in Frieden“. Kein Wort davon, dass ein Verbrechen stattgefunden hatte.

Bestrafung im Idyll

Wen die Ton-Dia-Show neugierig macht, der hat die Möglichkeit, selbst nach Guxhagen-Breitenau zu fahren. Einmal in der Woche versammelt Richter am Kasseler Opernplatz Documenta-Besucher, setzt sich mit ihnen in die Regiotram Nummer 5, steigt in Guxhagen aus und führt sie durch die Kirche und die Gedenkstätte. An einem Mittwoch im Juli bin ich dabei. Es ist ein heißer Tag, die Bahn fährt auf derselben Strecke durch die üppig grüne Hügellandschaft, die die Zwangsarbeiter zurücklegten, wenn sie nach Breitenau verbracht wurden. Viele der etwa 20 Exkursionsteilnehmer sind im Rentenalter, die beiden Töchter von Carolyn Christov-Bakargiev sind mit von der Partie, deswegen wechselt Richter, ein freundlicher, engagierter Mann Ende 50, in seinen Erläuterungen unermüdlich zwischen Englisch und Deutsch. In Guxhagen angekommen, führen uns steile Straßen zum Ufer der Fulda hinab, vorbei an Fachwerkhäusern und einem Taubenschlag. Auf der anderen Seite des Flusses ragt die mächtige romanische Kirche auf. Ein ländliches Idyll, würde es nicht eine Geschichte von Zerstörung und Zurichtung bergen.

Diese Geschichte beginnt im Jahr 1113, als Benediktinermönche am westlichen Ufer der Fulda eine weitläufige Klosteranlage errichten. Zu Zeiten der Reformation ereignet sich der erste Bildersturm. Die Kirche wird zur Scheune umgebaut, die Seitenschiffe werden abgerissen, die Spuren ihrer Mauern, ihres Dachs und der Säulengänge zeichnen sich auf den heutigen Außenmauern wie Narben ab.

Im 19. Jahrhundert wird aus der Scheune ein Arbeitshaus, das heißt, ein Gefängnis für Landstreicher und Prostituierte, denen die Aufseher das Arbeiten einbläuen. 1933 und 1934 nutzen die Nazis die Anlage als Konzentrationslager, in dem sie Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten aus der Region einsperren, bevor sie sie in größere Konzentrationslager deportieren. 1940 verwandelt die Gestapo den Komplex in ein Straflager für Zwangsarbeiter. Mit den Henschel-, Fieseler- und Thyssen-Werken ist Kassel ein Zentrum der NS-Rüstungsindustrie, dementsprechend hoch ist der Bedarf an Zwangsarbeitern, und wer zu fliehen versucht, wer die Arbeit verweigert oder wer zu langsam zu Werk geht, wird zur Strafe nach Breitenau verbracht.

Nach dem Krieg ist die Geschichte nicht vorbei. 1952, sieben Jahre nachdem US-amerikanische Soldaten das Lager befreit haben, wird daraus ein Heim – diesmal für schwer erziehbare Mädchen. Wer den abstrakten Begriff des Einschließungsmilieus in situ studieren möchte, findet in Breitenau Anschauungsmaterial in Überfülle. Eine, die das in den 60er Jahren tut, ist Ulrike Meinhof; sie recherchiert in der einstigen Klosterkirche für ein Radiofeature und für den Film „Bambule“; das Feature wird am 11. November 1969 vom Hessischen Rundfunk ausgestrahlt. Da es Willkür und Stumpfsinn in der Heimunterbringung skandalisiert, löst es eine Welle des Protests gegen diese Form der Erziehung aus und trägt so zur Schließung des Heims im Jahr 1973 bei. Der Film „Bambule“ wiederum wird erst viele Jahre nach seiner Entstehung im Fernsehen laufen, weil Meinhof eine Woche vor dem geplanten Ausstrahlungstermin in den Untergrund geht.

Heute befinden sich auf dem Gelände ein offenes Wohnheim für psychisch Kranke, die evangelische Gemeindekirche und die Gedenkstätte. Als wir ankommen, setzen wir uns erst mal in den Hof und verschnaufen, eine Patientengruppe sitzt auch auf den Bänken. Die Kirche betreten wir durch den Eingang, der für die Dorfbewohner gedacht ist. Die Mädchen im Erziehungsheim, die Häftlinge im Konzentrationslager, die Insassen des Arbeitshauses hatten eine eigene Tür. Sonntag für Sonntag nahmen sie am Gottesdienst teil, vor den Augen der Guxhagener Gläubigen saßen sie im sogenannten Häftlingsflügel. Ob sich die Dörfler nicht gewundert hätten, frage ich Richter. Nein, lautet die Antwort. Viele hätten ohnehin als Aufseher im Lager gearbeitet, und „Abscheu gegenüber arbeitsscheuem Gesindel“ sei damals gang und gäbe gewesen.

Steine und Würde

Richter steht vor dem Altar, wir sitzen auf den Kirchenbänken, während er erläutert, wie das Gebäude im 19. Jahrhundert in zwei Hälften zerteilt wurde. In der Mitte des Kirchenschiffs wurde eine Wand errichtet, die Orgel diente als zusätzliches Trennelement, auf der anderen Seite zog man Zwischendecken ein, wobei so manches Wandrelief, einst von oberitalienischen Steinmetzen gefertigt, zerstört wurde. In einem großen Raum, dort, wo Judith Hopf ihre fragile, aus gestapelten Gläsern und papiernen Blättern bestehende Installation „Bamboo Forest“ aufgebaut hat, kann man diese Lücken deutlich erkennen.

Eine Etage weiter unten, im Vorzimmer zu einem Waschraum, zwängt sich ein 900 Jahre altes Kapitell unter eine Betondecke. Frappierend zu sehen, wie unverfroren sich die Anstaltsarchitektur dem romanischen Bau aufnötigt. Ich kann nicht umhin zu denken: Wo man keinen Respekt für einen kunstvoll in Stein gemeißelten Vogel Greiff hat, schert man sich um Menschenwürde einen Dreck.

Bevor ich nach Breitenau fuhr, hatten mich leise Zweifel umgetrieben: Hat es Sinn, die Arbeit eines engagierten Historikers in den globalen Kunstbetrieb einzuspeisen? Führt das nicht nolens volens dazu, dass eine spezifische historische Erfahrung als Zutat für den allumfassenden Trauma-Brei genutzt wird, dessen Schauereffekte zeitgenössische Kunst so gerne auskostet? Oder, umgekehrt, dass sich die Kunst darin erschöpft, die Volkshochschule nachzuahmen? Doch die Zweifel zerstreuen sich rasch. Denn sowohl die Tour nach Breitenau als auch die Exponate in Kassel ermöglichen eine ästhetische Erfahrung im besten Sinne: Sie schärfen die Wahrnehmung.

Wenn man sich auf Gunnar Richters Erläuterungen einlässt oder die subkutanen Motivketten in den einzelnen Kunstwerken aufspürt, lernt man, genau hinzuschauen und dabei die Spuren der Vergangenheit in dem, was heute ist, zu erkennen und zu lesen. Nationalsozialismus ist dann nichts, was mit unermesslichem Schrecken blendet, sondern etwas, dessen Funktions- und Wirkweisen im Detail erkennbar werden. Etwa wenn man eine ehemalige Isolierzelle betritt. Auf den ersten Blick sind die Wände grau und glatt, auf den zweiten sieht man die Einritzungen, die die Häftlinge vorgenommen haben. Es gibt einen Kalender, mit dem ein Häftling die Tage zählte, damit er das Gefühl für Zeit nicht verlor. Oder den bösen Satz: „Wir hungern hier, weil unser Führer es so will.“

Die Inhaftierten der Gestapo, erläutert Gunnar Richter, während er mit einer Taschenlampe die Einritzungen ausleuchtet, litten vor allem an den Schlägen, an der Kälte und am Hunger. Den Mädchen im Heim ging es, was das Essen anbelangt, nicht besser. Ines Schaber und Avery F. Gordon greifen dies in kurzen, fiktiven Hörstücken auf, der Hunger der jungen Frauen mündet darin in Fieberträumen vom Schlaraffenland.

Am Ende des Rundgangs durch die Gedenkstätte entdecke ich in einer Vitrine den Esslöffel wieder. Wenn man ganz genau schaut, erkennt man, dass die Löcher die Initialen des einstigen Besitzers bilden. JvdV, Jan van der Vlies, ein Niederländer. Er hat das Straflager überlebt. „Am 4. April 1945 sind wir mit einem Feuerwehrwagen (LF-15) Richtung Westen gefahren“, schreibt er 1986 in einem Brief. „Wir muss ten aber erst nach Osten, weil die Brücke gesprengt war. Bei Hersfeld, glaube ich, konnten wir dann über die Fulda. In Hachenburg (ca. 40 km SW von Siegen) wurden wir dann von den Amerikanern von der Straße geholt und weiter befördert. In zwei Tagen waren wir in Maastricht.“

■ Am 21. Juli kann man an der Seite von Ines Schaber und Gunnar Richter von Kassel nach Breitenau wandern. Start um 11 Uhr vor der Handwerkskammer, Anmeldung unter http://d13.documenta.de. Am 22. Juli wird im Ständehaus um 19 Uhr Lívia Páldis Hörspiel „To Be Corrected – Abstracts for a Hörspiel“ ausgestrahlt. Gunnar Richters Führungen nach Breitenau beginnen mittwochs um 11.45 Uhr am Opernplatz. Anmeldung nötig unter http://d13.documenta.de.