Politik ohne Fehlerwarnsystem: Die Zukunft als Chaos-Szenario

Die Fehlerpfade der Zivilisation sind offen wie eh und je. Ob Atomkraft, Gentechnik oder Digitalisierung: Bis heute hat die Politik keinen Technikfolgen-Abschätzungsprozess.

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Von UDO KNAPP

»Statt immer nur Fehler zu reparieren, sollten wir die Systeme so umbauen, dass Verluste des Fortschritts gar nicht erst entstehen«, so kennzeichnet der Grüne Bundesvorsitzende Robert Habeck in einem Interview mit der Welt die Kernthese seines neuen, noch unveröffentlichten Buches mit dem Titel Von hier an anders.

Beim Lesen dieses Satzes fiel mir wieder ein, wie wir irgendwann im Jahr 1985 und in der ersten Bundestagsfraktion der Grünen gezwungenermaßen begannen, über Technikfolgenabschätzung nachzudenken. Das war unter dem Eindruck der damals noch ungebremsten Ausbaupläne der Atomenergie und dem Antrag der anderen Fraktionen, eine Enquete-Kommission Technikfolgenabschätzung einzurichten. Wir konnten und wollten nicht verstehen, warum der Ausbau der Atomenergie ohne Reflektion und Bewertung der damit verknüpften gesellschaftlichen, gesundheitlichen, ökologischen und ökonomischen Folgen immer weitergehen sollte.

Ganz im damaligen, durchaus selbstbewussten Selbstverständnis unserer ganz besonderen Rolle in der großen Politik im Bundestag haben wir uns nach dem Motto »Jetzt kommen wir, jetzt wird endlich alles anders« an die Erarbeitung eines Gesetzentwurfes zur rechtlichen verpflichtenden Verankerung einer Technikfolgenabschätzung in allen einschlägigen Gesetzgebungsverfahren gemacht. Unser Leitgedanke war einfach. Wie in jedem Gesetz bei seiner Verabschiedung die langfristige Finanzierung seiner Gebote mit allen Rechtsfolgen nachgewiesen werden musste und muss, sollten genauso von jetzt an vor der Verabschiedung von Gesetzen, die neuen Technologien ihren rechtlichen Rahmen setzen, deren Folgen in jeder Hinsicht geprüft und abgewogen werden.

Fehlervermeidung in der Politik durch wissenschaftliche Expertise

Die Ergebnisse dieses Prozesses sollten dann entscheidungsleitend ins Gesetzgebungsverfahren einbezogen werden. Wir wollten langfristig wirkende Fehler bei politischen Entscheidungen durch entsprechende systematische wissenschaftliche Expertise schon im Vorfeld grundsätzlich und für immer ausschließen.

Daraus ist nichts geworden.

Nach zwanzig Jahren Diskussionen und zwei Enquete-Kommissionen wurde schließlich 2009 das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), das sich in Theorie und Praxis mit Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse befasst, mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zusammengeführt und in der Helmholz-Gemeinschaft wissenschaftspolitisch verankert. An das KIT ist das TAB angegliedert, das Büro für Technikfolgenabschätzung des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Von hier aus beraten zwölf fest angestellte Wissenschaftler den Bundestag in technologischen Zukunftsfragen.

Die Fehlerpfade der Zivilisation in die Zukunft sind weit offen

Der Gesetzgeber hat damit immerhin einen, nur ihm selbst verantwortlichen, aber zugleich in die Wissenschaftscommunity eingebundenen Ort für seine Technikfolgenabschätzung in allen Gesetzgebungsverfahren. Zusätzlich wurden in den letzten Jahren die Qualität und der Umfang der politikberatenden wissenschaftlichen Arbeit ausgebaut. Durch die Forschungsarbeiten etwa des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung zur Klimakrise oder durch die Arbeiten des Robert-Koch-Institutes zur Corona-Krise stehen der Politik in jedem gewünschten Umfang wissenschaftliche Expertise für ihre politische Entscheidung mit hoher, kaum bezweifelbarer Qualität und Evidenz zur Verfügung.

Aber einen systematisch organisierten, wissenschaftlich gut begründeten, abgewogenen und gesellschaftlich breit getragenen Fortschrittspfad mit risikobegrenzendem, langfristige Fehler ausschließenden, legislativen Technikfolgen-Abschätzungsprozess gibt es immer noch nicht. Daran ändert auch die intensive öffentliche Kommunikation jeder neuen wissenschaftlichen Erkenntnis und deren technische Anwendungen wenig, die heute weltweit gleichzeitig möglich sind.

Die Fehlerpfade der Zivilisation in die Zukunft sind weit offen. Und, wie eh und je, werden sie besinnungslos immer weiter und immer breiter ausgetreten. Nach dem erst halb abgeschlossenen Menschheitsabenteuer mit der Kernenergie befindet sich die Zivilisation mitten in der unüberschaubaren Gentechnikverführung ohne jede verlässliche Kennung und Ausschluss ihrer tatsächlichen Folgen und Fehler. Neben der Vernichtung von Millionen alter Industriearbeitsplätze und der Zerstörung des klassischen kognitiven Bildungskanons eröffnet die Digitalisierung gerade noch unvorstellbare Möglichkeiten individueller Überwachung und Unterdrückung, bis hin zu illegalen, unkontrollierbaren Desinformationskampagnen, der direkten Beeinflussung von Wahlkämpfen und hybriden Datenkriegen, mit deren Einhegung die demokratischen Systeme des Westens bisher völlig überfordert zu sein scheinen.

Der ungebremste Fortschritt der Zivilisation als dystopisches Chaos-Szenario

Der ungebremste Fortschritt der Zivilisation kommt im Augenblick eher als dystopisches, widersprüchliches Chaos-Szenario daher denn als Ausbau neuer linearer, freiheitlicher, aufgeklärter und friedlicher Menschheitshorizonte. Robert Habecks angedeuteter Systemumbau Von hier an anders erscheint vor diesem Hintergrund ähnlich ideologisiert selbstbezogen und tatsachenblind, wie es der Politikansatz vieler Grüner in ihren ersten Bundestagsjahren gewesen ist, wenn auch lustvoll vollzogen.

Dabei haben wir doch in den letzten dreißig Jahren, mehrheitlich ohne große Verluste und persönliche Opfer, lernen dürfen, dass der Inhalt unserer – wahren wie falschen – Überzeugungen unvermeidlich hinter dem Informationsreichtum der Wirklichkeit zurückbleibt. »Auch wenn der Mensch ›von der Größe und Macht seines Geistes‹ nach Hegel ›nicht groß genug denken‹ kann: Die benannte Lücke schließen zu wollen, wäre ein aussichtloses Unterfangen, weil Erkennen nicht in einer Spiegelung der Wirklichkeit besteht. Dafür ist unser Geist nämlich nicht groß genug.« So schreibt der Philosoph Geert Keil in seinem Essay: Wenn ich mich nicht irre – Ein Versuch über menschliche Fehlbarkeit.

So unbefriedigend diese Tatsache für in Vernunft verliebte Rationalisten auch sein mag, es gibt keinen fehlerfreien, keinen vor Unheil sicheren Weg in die Menschenzukunft. Der Erkenntnishorizont der Menschen ist und bleibt strukturell begrenzt. Es bleibt nicht viel mehr, als zu hoffen, dass die unvermeidlichen Fehlentwicklungen jeden Fortschritts am Ende politisch so eingehaust werden können, dass sie das Glück nicht mit sich fortreißen, ein Mensch sein zu dürfen.

Das Reden vom Systemumbau ist vergiftet

Einfach ist dieser Weg nicht.

Die Systemumbauer sind in der modernen Geschichte immer wieder die omnipotenten, gewalttätigen, totalitären und bei genauerem Hinsehen menschenfeindlichen Zerstörer jeder Zukunft gewesen. Am Ende sind sie entweder an ihren eigenen Ideologemen zugrunde gegangen, oder sie mussten unter unsäglichen Opfern aller anderen davongejagt werden. Das Reden vom Systemumbau ist vor diesem Hintergrund vergiftet. Es sei denn, es geht um das Badezimmer. »Mit dem innovativen Systemumbau ›Wanne zu Dusche‹«, heißt es in einer Werbung, »bietet Ihnen das Team von nanoBAD eine sichere und schnelle Lösung.«

Da kann man nicht meckern, und daher wird empfohlen, den Systemumbau den Installateuren zu überlassen.

UDO KNAPP war von 1985 bis 1990 Mitarbeiter der Grünen Bundestagsfraktion, unter anderem bei Hans-Christian Ströbele und Otto Schily.

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