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Archiv-Artikel

Sagt Ja zum Konflikt

LEIDENSCHAFTEN Warum weiß keiner mehr, was er wählen soll? Chantal Mouffe erklärte es in einem Vortrag über postpolitische Politik im HAU

„Sagt mal, wisst ihr eigentlich schon, was ihr wählt?“ Dieser Satz zählt dieser Tage zum Standardrepertoire einer gepflegten Unterhaltung. Chantal Mouffe wird das nicht wundern. Die französische Politikwissenschaftlerin, die derzeit an der University of Westminster in London lehrt, lieferte am Donnerstagabend im Hebbel am Ufer mit einem Vortrag über „Democratic Politics in a Post-Political World“ die theoretische Erklärung dieses Phänomens. Sie beklagt das Verschwinden klarer Konfliktlinien aus der Politik. Mit dem Aufstieg der neoliberalen Ideologie haben sich in Europa die demokratischen Parteien rechts wie links der Doktrin des Zentrismus unterworfen, meint Mouffe. Der zentristische Konsens führt aber dazu, dass es keine Identifikationsmöglichkeiten für den Wähler mehr gibt.

Wenn die klare Unterscheidung zwischen rechter und linker Politik verschwindet, dann profitieren davon Rechtsextremisten und Populisten. Sie präsentieren sich als unterdrückte Stimmes des Volkes, die sich gegen die Herrschaft von Bürokratie und Elite erhebt. Wenn sich also die Leidenschaften des Politischen in der Politik nicht mehr artikulieren können, entsteht ein Vakuum, in das religiöse Sentimente, Fundamentalismen und nationalistische Ideologien stoßen. Gleichzeitig, konstatiert Mouffe, wird das Erörtern genuin politischer Fragen durch einen Moraldiskurs ersetzt, der gar nicht in der Lage ist, Populisten mit politischen Argumenten entgegenzutreten.

Die Fehler der Multitude

Diese Analyse lässt an Francis Fukuyama denken. Als dieser nach dem Fall der Sowjetunion das Ende der Geschichte ausrief, war das für die intelligenteren seiner Leser nicht viel mehr als ein Witz. Seine These vom endgültigen Sieg der liberalen Demokratie hatte aber auch ein leicht totalitären Beigeschmack. Behauptete sie doch im Kern, der Status quo sei ein alleinseligmachender, weil notwendiger Endzustand menschlicher Vergesellschaftung. Dass die Geschichte sich nicht um derart affirmative Doktrinen seliger Ruhe schert, hat sich bald gezeigt.

Dennoch, und hier sind wir wieder bei Mouffes Argumentation, ist die herrschende liberal-postpolitische Demokratietheorie von Fukuyama nicht allzu weit entfernt. Denn laut Theoretikern wie Ulrich Beck und Anthony Giddens befinden wir uns in einer neuen Phase der „reflexiven Moderne“, in der das alte Politikmodell sich feindlich gegenüberstehender, antagonistischer Positionen nicht mehr gelte. Diese Einschätzung verhindert jedoch die Artikulation möglicher Alternativen zur hegemonialen Ordnung, glaubt Mouffe. Denn für die Theoretikerin, die sich intensiv mit den Arbeiten Gramscis beschäftigt hat, ist Politik nicht nur durch das Streben nach Hegemonie, sondern auch notwendig durch das Vorhandensein von Antagonismen charakterisiert. Diese Antagonismen aber erzeugen Leidenschaften, die in einer postpolitischen Politik nirgends mehr ausgedrückt werden können. Die Identifikation der Repräsentierten mit politischen Projekten wird unmöglich.

Das wiederum ist der Grund, warum für Mouffe auch die Theorien des Postoperaismus von Leuten wie Paolo Virno und Antonio Negri ins Leere zielen. Eine radikaldemokratische Gegenhegemonie könne nicht von außen kommen, sondern nur von innen: Sie muss innerhalb der Matrix von rechts und links artikuliert werden. In der Tat besteht die Frage ja darin, wie sich die euphorisch angerufene Multitude in ihren Netzwerken überhaupt zu einem Projekt zusammenfinden kann. Denn auch die verschiedenen demokratischen Kämpfe konvergieren nicht automatisch: Einigkeit muss auch hier über bestehende Konfliktlinien hinweg hergestellt werden.

Die fundamentale Falschheit der Idee der Multitude besteht daher in der Annahme, Politik müsse nicht artikuliert werden, kritisiert Mouffe. Im Zentrum jeder gegenhegemonialen Praxis müsse daher die Forderung nach neuen Formen der Identifikation und der Individualisierung stehen. Womit wir beim Problem des morgigen Sonntags wären. Eine weitere Runde großer Koalition wird bedeuten, dass eine der wichtigsten Grundregeln der demokratisch verfassten Gesellschaft nach Mouffe verletzt werden wird. Ihr Ziel kann nicht sein, Konsens herzustellen, weil es einen rationalen Konsens aufgrund des antagonistischen Charakters von Politik gar nicht geben kann: Konflikte müssen ausgedrückt werden. ULRICH GUTMAIR