piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Bürgermeisterin hat freien Blick

Seit zwölf Jahren überwinden die Programmgestalter nicht nur die Grenzen zwischen Weltmusik, Pop und Klassik: Das „Stimmen“-Festival in Lörrach und Basel vereint drei Länder und 400 Künstler und verwandelt eine ganze Region einen Monat lang in ein Areal musikalischer Grenzenlosigkeit

VON STEFAN FRANZEN

Eigentümlich schroff und grollend, dann wieder zärtlich murmelt die Stimme. Die Worte, die –nur von Gitarre und Perkussion begleitet – den Gesang formen, erinnern an die Sprache der Berber, aber auch an ein vokalreiches afrikanisches Idiom. Man wird sie in keinem Lexikon der Welt finden. „Ich habe eine Fantasiesprache erfunden“, erklärt Julien Jacob aus Benin. „Mir kommt es darauf an, die intellektuelle Ebene zu überwinden. Meine Zuhörer sollen ihre eigene Deutung finden.“ Von Benin kam der Sänger schon als Kind nach Südfrankreich, über Paris führte ihn der Weg in die Bretagne, inzwischen gehört er zu den erfolgreichsten Chansonniers seiner neuen Heimat. Zwischen den Voodoo-Gesängen seines Geburtslandes und bretonischem Folk sieht er seitdem eine geheime Verwandtschaft. „Die Bretagne ist mein zweites Afrika“, schmunzelt der Songwriter.

Fast könnte Julien Jacob als allegorische Figur für das Festival dienen, auf dem er bei der Afrika-Nacht im Schweizer Grenzort Riehmen auftrat. Über einer ganzen Region prangt von Mitte Juni bis Ende Juli das Motto „Stimmen“. Seit zwölf Jahren überwinden die Programmmacher des Festivals nicht nur die Grenzen zwischen Weltmusik, Pop und Klassik, sondern auch die Landesgrenzen im Dreiländereck Deutschland-Schweiz-Frankreich. Dieses Jahr sind es fünfzehn Spielorte, die das Festival umfasst: Elsässische Klöster, Schweizer Dorfkirchen und badische Schlösser genauso wie Parks, Plätze und ein Bahnhof. Das schlichte Motto lässt es zu, dass Favela-Beats und Arvo Pärts „Passio“, kirgisische Barden und Herbert Grönemeyer sich auf einen Nenner bringen lassen.

Das Zentrum des expandierenden Festivals bildet jedoch immer noch das südbadische Städtchen Lörrach. Die kleine Zollstadt vor den Toren Basels bietet mit dem Burghof das Indoor-Hauptquartier der Festivalwochen. Hier findet die Eröffnung statt, gerne mit Diven oder groß angelegten Friedenskonzerten. In diesem Jahr hatte man allerdings umgestellt: Seu Jorge, seit seiner Mitwirkung am brasilianischen Erfolgsfilm „City of God“ der neue Prophet des Samba-Rock, besorgte eine Ouvertüre ganz ohne Glamour.

Im Film fungierte er als integre Stimme der Favela, die zu einem Leben jenseits von Drogenhandel und Gewalt aufruft. Genauso zeigt er sich auf der Bühne: als besonnener Damba-Poet, der fernab von Gangsta-Rap-Klischees die stille, fast bluesige Seite der brasilianischen Volksmusik hervorkehrte. Auch dieser ungewöhnliche Auftakt funktionierte in Lörrach: Mit „dancing ovations“ wurde er gefeiert.

Überhaupt können sich die „Stimmen“-Macher über ein aufgeschlossenes Publikum freuen: „Unsere Zuschauerzahlen liegen stabil zwischen 25.000 und 30.000. Sie vertrauen auch bei unbekannten Namen auf unseren guten Geschmack“, erklärt der Pressesprecher Karsten Kleine. Fast die Hälfte der Zuhörer kommt aus der Schweiz, immerhin noch 5 Prozent schaffen den Sprung aus Frankreich über die Grenze. Das Publikum setzt sich querbeet aus allen sozialen Schichten und Altersklassen zusammen, vom Bildungsbürger mit Faible für indische Klassik bis zum Teenie, der zu den Söhnen Mannheims schmachtet. Große Popkonzerte subventionieren die exquisiten Weltmusikhäppchen, so finanziert sich das Festival. „Unsere Eigenfinanzierung liegt bei 60 Prozent. Den Rest schießen treue Sponsoren sowie die Städte und Landkreise Lörrach und Basel zu“, verrät Kleine.

Festivalleiter Helmut Bürgel, ein ehemaliger Journalist, ist ein Visionär, der ständig nach neuen Partnern im Umland sucht. Um das nahe gelegene Basel besser einzubinden, ging er mitten in den Vielvölkerbezirk der Schweizer Metropole und stellte dort mit der Kulturkaserne ein dreitägiges „Urban Village“ mit Basar und Konzerten auf die Beine. Mit großem Erfolg: Zum einen glückte es, in einer familiären Atmosphäre Immigranten und Einheimische zusammenbringen. Zum anderen aber stand auch eine musikalische Philosophie hinter der Idee: „In der Weltmusik gab es in den letzten Jahren eine Machtergreifung der Technik“, sinniert Bürgel. „Wir wollen dagegen zeigen, dass Musik auch dann in höchstmöglicher Qualität präsentiert werden kann, wenn man diese absurde Materialschlacht nicht mitmacht.“ Kleine Bühnen, intensiver Kontakt mit und unter den Künstlern waren das Resultat – eine dörfliche Atmosphäre eben, die am Eröffnungstag nur durch einen ins Rutschen geratenen Zeitplan getrübt wurde. So wurden die Lieder der buddhistischen Nonne Chöying Drolma oder zarte indische Dhrupad-Gesänge von den lauteren Tönen der globalen Kakofonie überlagert. Manchmal sind die Geister der Technik eben nur schwer loszuwerden.

Große Namen des indobritischen „Asian Underground“ und aus Bollywood trafen dagegen am Abend mit noch wenig bekannten Vertretern der indo-deutschen Szene auf der Bühne zusammen – eine echte Premiere: Möglich gemacht hatte dieses transatlantische Treffen das Künstlernetzwerk Ambassador Network, eine Schaltstelle für indische Events aus Heidelberg. „Wir wollen raus aus den Communities und zeigen, dass die in Deutschland lebenden Inder nicht nur Computerspezialisten sind“, erklärt der Gründer des Netzwerks, Sherry Kizhukandayil. Label-Promotion, Künstlerbuchungen und CD-Produktionen sind für das junge Unternehmen eine Möglichkeit, sich als musikalische Brückenbauer zu präsentieren.

Einen ungewöhnlichen musikalischen Brückenschlag, der die diesjährigen Länderschwerpunkte Indien/Pakistan und Spanien zusammenführte, gab es auch am vergangenen Samstag zu bewundern: Im „Qawwali-Flamenco“-Projekt trafen dort etwa der Vokalvirtuose Faiz Ali Faiz und der Flamenco-Newcomer Miguel Poveda aufeinander. Ein bewegendes Meeting, ganz ohne den erzwungenen Fusions-Charakter mancher Weltmusikgipfel – vielmehr legten die Akteure überzeugend uralte kulturelle Adern zwischen Punjab und Andalusien offen.

Nächste Woche zieht das Festival zur Finalrunde in den pittoresken Rosenfelspark von Lörrach. Nach altem Brauch regiert dort ausschließlich die Weltmusik, diesmal unter anderem mit den Barcelona-Mestizo-Stars Ojos De Brujo oder den Gospellegenden Blind Boys of Alabama: Die Bürgermeisterin von Lörrach, selbst ein großer Fan des „Stimmen“-Festivals, hat dort von ihrer Villa aus einen freien Blick auf die Bühne. Auch das gibt es wohl nur in Lörach.

Programm unter: www.stimmen.de