: Der Anti-Armstrong
In drei Tagen endet die Regentschaft von Tour-König Lance Armstrong. Das Peloton muss sich dann einen neuen Patron suchen. Heißester Anwärter auf diesen Job ist der Italiener Ivan Basso
VON SEBASTIAN MOLL
Als Lance Armstrong 1999 erstmals die Tour de France gewann, war das Fahrerfeld ein wilder Haufen. Die Sieger der beiden Vorjahre, Marco Pantani und Jan Ullrich, waren nicht am Start, somit hatte keine Mannschaft die Verantwortung für Ordnung im Peloton. Zudem war unklar, wen es zu schlagen gilt und auf wen drei Wochen lang Jagd zu machen war. Armstrong änderte das alles, und so herrscht seit 1999 eine straffe Hierarchie und eine klare Organisation im Feld. Im Zentrum stehen Armstrong und seine Mannschaft, alles, was während der knapp 4.000 Kilometer auf Frankreichs Landstraßen passiert, geht vom amerikanischen Patron aus oder bezieht sich zumindest auf ihn.
Wenn in wenigen Tagen diese Regentschaft endet, so befürchten es jedenfalls viele, wird im Profiradsport wieder Anarchie ausbrechen. Der König tritt ab, ein neuer muss sich erst behaupten. So nervtötend Armstrongs Dominanz war, so sehr hat man sich daran gewöhnt, dass der Amerikaner die Verantwortung übernimmt.
Anwärter auf die Nachfolge des Unantastbaren aus Texas gibt es einige, die drei Kapitäne von T-mobile etwa, den jungen Gipfelstürmer Alejandro Valverde oder Armstrongs früheren Helfer Floyd Landis. Konstant hat sich für die Rolle in den vergangenen zwei Jahren jedoch nur einer empfohlen: der Italiener Ivan Basso. Er war 2004 der Einzige, der im Gebirge immer mit Armstrong mithalten konnte. Und er ist es auch in diesem Jahr wieder. Den zweiten Platz verlor er 2004 gegen Andreas Klöden, weil er im Zeitfahren noch zu schwach war, doch dieses Jahr verblüffte er die Fachwelt, als er beim Giro d’Italia überlegen das große Zeitfahren gewann. Basso hat durch intensives Spezialtraining im Winter seine Schwäche ausgebügelt und wird vermutlich deshalb in diesem Jahr in Paris klarer Zweiter.
Der mutmaßlich neue Patron der Tour ist so etwas wie ein Anti-Armstrong. Er strahlt eine tiefe innere Ruhe aus, er ist bescheiden und zurückhaltend und schöpft seine Motivation nicht daraus, andere zu vernichten, sondern aus dem eigenen Willen zum Erfolg. „Ich denke nicht über meine Gegner nach“, sagt er, „das blockiert nur. Ich muss nur ich sein – der Ivan Basso, der gewinnen kann. Darauf konzentriere ich mich.“
Bassos beinahe fernöstliche Ausgeglichenheit, sein in sich ruhendes Selbstbewusstsein, das, anders als jenes von Armstrong, nicht ständiger Bestätigung bedarf, entspringt so sehr seiner Veranlagung wie der Zusammenarbeit mit seinem Mannschaftsleiter Bjarne Riis. Riis nahm das Talent Basso vor zwei Jahren in sein Team CSC auf, nachdem der Italiener von seiner vorherigen Mannschaft Fassa Bortolo aussortiert worden war. Basso war 1998 Juniorenweltmeister geworden und 2002 bester Jungprofi bei der Tour. 2003 wurde er Siebter – zu wenig für seinen Sportdirektor bei Fassa Bortolo, Giancarlo Ferretti.
Bjarne Riis hingegen hatte Geduld mit Basso. „Ich brauche keinen Druck“, sagt Ivan Basso. „Den mache ich mir schon selbst. Das Wichtigste für mich ist, dass man mich ernst nimmt. Bjarne erkennt das. Ich sage meine Meinung, er sagt seine – und am Ende vertraut er mir. Das gibt mir wiederum Selbstvertrauen.“ Riis und Basso, das sind nicht Chef und Angestellter, sondern zwei Partner mit einem großen Ziel. Und ironischerweise reifte Basso ohne Druck unter Riis schneller, als das unter Ferretti je möglich gewesen wäre: „Ich bin jetzt so weit, die großen Siege zu holen“, sagt Basso und fügt an: „Das liegt an Bjarne.“
Basso gehört zu jener raren Spezies des mündigen Athleten, der sich seine eigenen Ziele steckt und sie verfolgt. Diese Qualität ist es, die ihn für die Nachfolge von Armstrong qualifiziert. In einer strikten vertikalen Hierarchie in einer traditionellen Mannschaft hätte er sich deshalb auf Dauer wohl eher nicht zurechtgefunden. In der innovativ geführten Squadra von Riis hingegen blüht er auf. Deshalb lehnte er auch dankend ab, als Armstrong ihn nach der vergangenen Tour vom Markt kaufen wollte, um ihn sich zu unterwerfen: „Ich bin zu CSC gegangen, weil Bjarne Riis für mich der richtige Mann ist. Daran hat sich nichts geändert.“
Überhaupt hat Basso zu Armstrong zwar ein respektvolles, aber kein unterwürfiges Verhältnis. Er sieht sich mit dem Champion auf Augenhöhe, und auch das zeichnet ihn als Kandidaten für dessen Nachfolge aus. „Armstrong ist sicher der einzige Rennfahrer, der nicht schlagbar ist“, sagt Basso. Dennoch hält er ihn für einen „Sportlerkollegen, zu dem ich ein gutes Verhältnis habe. So wie zu vielen anderen auch.“ Dass Armstrong in den Medien im vergangenen Jahr von einer großen Freundschaft zwischen sich selbst und Basso sprach, empfand der Italiener indes eher als unangenehm: „Freund ist ein großes Wort“, sagte er dazu nur knapp.
Für eine Freundschaft ist der Amerikaner Basso in einigen Dingen doch zu unsympathisch: „Mir gefallen die bescheidenen Rennfahrer, nicht diejenigen, die sich in den Vordergrund spielen.“ Genau so einer ist Basso, ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger. Deshalb wird der Radsport, sollte 2006 die Ära Basso anbrechen, seinen neuen König auch lieben. Armstrong hat die Radsportwelt sich nur unterworfen.