berliner szenen: Obszön viele Torten im Fenster
Im Berliner Branchentelefonbuch von 1940 stoßen wir auf die Firma Walter Kirsch, Brunnenstraße 194, Lieferant für Behörden, Industrie und Handel steht da und dass man den Katalog verlangen soll. Würden wir ja machen, schon um die schicken Drehstühle, Rollschränke und Gefolgschaftsmöbel anzuschauen, die modernen Herren- und Direktionszimmer. Auf der Suche nach einem verschollenen Schriftsteller durchforsten wir die digitale Sammlung Berliner Adress- und Telefonbücher der ZLB.
Ein Max Pelzer in der Rankestraße erteilt Spezialauskünfte. Gustav Walter Rieser, beeideter Handelsmakler für Butter und Käse, bietet in der Zentralmarkthalle Mitte seine Dienste an. Die Dynamit-AG vorm. Alfred Nobel & Co wartet am Tirpitzufer 60 auf Kundschaft. Passend dazu verkauft Erich Kolbe in der Oranienstraße 27 Bandagen und Kunstglieder. Die Branche boomt, allein ein M. Pech führt 24 Filialen. Gut läuft auch die Kammerjägerei. Willi Arendt aus Weißensee lockt mit dem Rattenfänger von Hameln. Erich Haftmann aus SW 11 verbürgt sich für die „Todessicherheit“ seines Aethylenoxyd-Gases. Und Heinrich Müller, Zwinglistraße 19, warnt: Achtung! Gaskammer! Das reicht für heute.
Entspannung suchen wir bei einem Spaziergang. N. findet Schaufenster obszön. Das probieren wir sofort aus. Aber im Kollwitzkiez gibt es keine obszönen Schaufenster, außer dem mit den vielen Torten. Vor einer Zahnarztpraxis bleiben wir stehen. Die neonhell erleuchteten Räume erstrecken sich über zwei Häuser und mehrere Etagen, das ist obszön. Danach zeigt mir N. ihr neues Sofa. Es steht im Schaufenster in der Dunckerstraße, ist teuer und extravagant. Keine Sofalandschaft, ein brettharter Diwan. Als Farbe hat N. ein milchiges Weiß gewählt, damit jedes Glas Rotwein auch bestimmt seine Spuren hinterlässt. Sascha Josuweit
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen