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: Gesellschaftliche Spaltung von Sechsjährigen

Kurz vor dem Einschlafen setzt sich meine Tochter mit einem Mal auf und meint: „J. hat gesagt, ich kann nicht die Freundin von P. sein. Sonst ist er nicht mehr mein Freund.“ Ich streiche ihr beruhigend über den Rücken und flüstere: „So funktioniert Freundschaft nicht. Er kann dir nicht vorschreiben, mit wem du sonst noch befreundet bist.“ Meine Tochter erklärt seufzend: „Aber er will ja nur nicht, dass ich Corona bekomme.“ Ich werde hellhörig: „Etwa weil P. Corona nicht so ernst nimmt?“ Sie nickt. Nun seufze ich. Damit, dass die gesellschaftliche Spaltung bereits Sechsjährige erreicht, habe ich nicht gerechnet. Ich kraule meiner Tochter den Kopf und meine: „Schlaf jetzt bitte. Wir reden darüber morgen in Ruhe.“ Während ihr Atem langsam gleichmäßiger wird, gerate ich ins Grübeln.

Als mir im ersten Lockdown gleich zwei Freundinnen am Telefon erzählten, dass Bekannte von ihnen „nicht an Corona glauben“, konnte ich mir nicht vorstellen, wie man die Bilder der Leichenwagen, die durch Italien fuhren, nicht glauben oder anders erklären wollte. Die Bekannten verwiesen meine Freundinnen auf Einschätzungen von Wissenschaftlern anderer Disziplinen und Behauptungen von B-Promis. Die eine Freundin leitete mir eine ihr geschickte Videobotschaft des damals nur als Autor veganer Kochbücher bekannten Attila Hildmann weiter.

Nach der mich bereits befremdenden Begrüßung: „Liebe Patrioten“ behauptete Hildmann ohne Angabe von Quellen, Bill Gates, der, wie ich später recherchierte, bereits 2017 in einem TED Talk vor einer Pandemie warnte und 2015 die Entwicklung eines Impfstoffs gegen einen anderen Corona-Erreger unterstützt hatte, habe „das Virus erfunden, um sich durch einen Impfstoff bereichern“ und allen Menschen „bei der Impfung Mikrochips einsetzen“ zu können. Ich musste laut lachen.

Die betroffenen Freundinnen aber waren verzweifelt. Gemeinsam mit ihnen überlegte ich, was ihre Bekannten empfänglich für solche Verschwörungstheorien machen könnte. Und wie sie mit ihnen umgehen sollten: den Kontakt meiden oder diskutieren? Während die eine Freundin alles daransetzte, ihre Bekannte von ihren Überzeugungen abzubringen, entschied sich die andere dazu, das Thema Corona im täglichen Kontakt zu umschiffen.

Als im Spätsommer auch ein ehemaliger Kollege von mir damit anfing, dass er den Medien schon seit dem 11. September nicht mehr traue und die Coronaberichterstattung für staatlich gelenkt halte, redete ich so lange auf ihn ein, bis ihm Zweifel kamen. Ob sie anhielten, weiß ich nicht. Unser Kontakt schlief ein.

Nun sinniere ich die halbe Nacht, was ich meiner Tochter in Bezug auf ihren neuen Freund raten soll. Ich denke an den Vater des Jungen, der seit Monaten keine Maske im Bus trägt, und an die Mutter, die mir ausgerechnet an dem Tag, an dem vier Klassen und der Kindergarten der Schule unserer Kinder wegen Coronafällen unter Quarantäne gestellt wurden, weismachen wollte, dass jede gewöhnliche Grippe gefährlicher als Corona sei, und am Ende raunte: „Dass ausgerechnet dieses Jahr so wenige an der Grippe gestorben sein sollen, zeigt, dass da manipuliert wird.“

Wenn meine Tochter sich weiter mit ihrem Sohn anfreundet, denke ich, muss ich mich ständig mit solchen Ansichten auseinandersetzen. Beim Frühstück sage ich meiner Tochter: „Natürlich kannst du mit P. befreundet sein. Er glaubt ja nur, was seine Eltern meinen. So wie du auch. Deswegen sollte keine Freundschaft enden.“ Und füge hinzu: „Aber eure Übernachtungspartyidee muss erst mal warten, ja? Ihr könnt ja in der Schule miteinander spielen.“

Eva-Lena Lörzer