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Archiv-Artikel

Das Ende des Regens

Dem Jazz der Sechzigerjahre spürt die Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker schon länger nach. Ihr jüngstes Stück, gerade in Wien zu Gast, gilt John Coltrane und seinem Blick nach Indien

VON SILKE BAKE

Zwei unterschiedliche Musikstücke verbindet die belgische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker in ihrem jüngsten Abend, der im Juli über Tanzfeste in Nürnberg, Zürich und Wien tourte und im August und September in Hamburg und Weimar gastieren wird: den traditionellen indischen Raga „Mian Malhar“ und das Jazzstück „ Love Supreme“ von John Coltrane. Nach „Bitches Brew“, einer Choreografie zu Miles Davis, und „Once“, ihrem Solo zu einer Platte von Joan Baez, ist dies ihre dritte Auseinandersetzung mit der Musik der 60er-Jahre.

In „A Love Supreme“ kulminierte John Coltranes Auseinandersetzung mit traditioneller afrikanischer und indischer Musik, mit der er damals die engen Grenzen des Jazz geöffnet hat. Beide Musikstücke sind von ausschließender Dichte und Intensität. Die Hermetik des Raga entsteht durch die Flächigkeit in der meditativen Struktur der Musik. Minimale Verschiebungen in Rhythmus und Tempo führen zu kaum wahrnehmbaren Veränderungen in dem über eine Stunde dauernden improvisierten „Gebet“, mit dem das Warten auf das Ende des Regens und auf den Geliebten begleitet wird. Der improvisierende Jazz Coltranes lässt jedem Musiker und seinem Instrument zwar seine Eigenständigkeit, jedoch hängen sie so dicht an ihrem Thema und peitschen sich gegenseitig voran, dass es scheint, als befänden sie sich gemeinsam in Trance und nahe der Explosion.

Der Gesangsstimme und den drei Instrumenten des Raga werden acht Tänzerinnen und ein Tänzer entgegengesetzt, dem instrumentalen Quartett von Coltrane entspricht ein Tanzquartett, choreografiert von Keersmaeker zusammen mit Salva Sanchis. Gemeinsam ist beiden Teilen der weiße Bühnenraum. Auch die Kostüme sind weiß, vom flämischen Modedesigner Dries van Noten entworfen. Im ersten Stück erinnern die gerafften und geschichteten Röcke an traditionelle indische Kleidung. Dagegen verorten knielange Kleider und die Hosen und Hemden der Männer das zweite Stück in der lässigen Eleganz der 60er-Jahre.

Die Monotonie der indischen Musik nimmt die Choreografin in einer sich über die Dauer einstellenden Ereignislosigkeit auf. Zugrunde liegen der Struktur kreisende Formen im Raum, umeinander und um die eigene Achse. Mit großer Dynamik ausgeführt, lösen sie die Gruppe ständig auf in kleinere Konstellationen, die sich im Fluss abspalten und wieder zurückbinden.

Zunächst wie ein Ausbruch und der Musik zu widersprechen scheinen das Fallen und In-die-Höhe-Springen oder Gesten des Zusammenbrechens und von Affekten wie Trauer und Wut. Bald jedoch werden diese einverleibt und zu einer allzu vertrauten Gewohnheit. Die enorme Fülle an Aktionen, dieses permanente Auf und Ab, schafft mit der Dauer eine Hierarchielosigkeit und Gleichförmigkeit, die vergeblich eine Entsprechung zur Musik des Raga sucht, zur zirkulierenden Geschlossenheit eines spirituellen Denkens und zum Mangel an Linearität. Die Choreografie schafft es nicht, eine andere Ebene zu erreichen als die sich erschöpfende Aktion.

Im Gegensatz zum durchchoreografierten ersten Stück des Abends gibt es in der folgenden Arbeit zu Coltrane offene Teile, die den Tänzern Raum für Live-Komposition geben. Sie sind grob den vier Instrumenten (Saxofon, Piano, Bass, Schlagzeug) zugeordnet und bemühen sich, deren Linien der Begegnung und Durchdringung in tänzerische Bewegung und Raumkomposition zu übersetzen. Der Bezug zu „ihrem“ Instrument gibt ihnen ein wenig Halt in einer scheinbar haltlosen Musik, die den Tänzern fortwährend wegzurennen und zu entgleiten scheint. Die Aktion auf der Bühne wird vor allem während der Soli der Musiker vom entsprechenden Tänzer dominiert. Dann scheint dieser Tänzer bei sich und befreit von der kaum tragbaren Bürde, nicht nur die Musik, sondern auch seine Mitstreiter wahrzunehmen, die ihn vom Rande her beobachten, bis sie sich wieder in den Beat und die Bewegung des anderen einklinken. Der Versuch, sich körperlich dieser ekstatischen Hymne an die höchste Liebe anzuschmiegen, führt zu einer rasanten und explosiven Verausgabung, jedoch zu keiner Erlösung und keiner Transzendierung.

Bisher war Keersmaeker einzigartig darin, mit ihrer formal strengen Arbeit ein eigenständiges Pendant zu den musikalischen Formen zu entwickeln. „Bitches Brew“ und „Once“ schöpften zudem aus dem zeitlichen Abstand zwischen der Entstehung der Musik und der Choreografie, der als Raum biografischer Erfahrung und als Geschichte des Lebens mit dieser Musik spürbar wurde. In ihren Versuchen aber, Spiritualität in den Tanz zu übersetzen und über die bloße Aktion hinauszukommen, gelingt es ihr nicht, die Bewegungen aus ihrer Abhängigkeit von der Musik zu befreien.