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Archiv-Artikel

PHILIPP MAUSSHARDT überKLATSCH Spaziergang nach Florenz

Als Tourguide begleitet ich eine Schülergruppe über den toskanischen Apennin

An den Tagen zwischen den letzten Prüfungen und den Sommerferien wird an deutschen Schulen bekanntlich nicht mehr viel gelernt. Die Luft ist raus, der Urlaub nah – was also liegt näher, als eine „Studienfahrt“ zu organisieren, die in der Regel viel mit Fahrt und wenig mit Studien zu tun hat. Heutige „Studienfahrten“ führen nämlich häufig an so kulturell interessante Orte wie Ibiza, Lazise (Gardasee) oder an die Südküste der Türkei, wo man allenfalls noch das Auftriebsverhalten eines Surfbretts im Wasser studieren kann.

Als Pisa nichts anderes war als ein Städtchen mit schiefem Turm, da war das alles noch anders. Also wir haben auf Studienfahrt noch richtig studiert. Das Bier in Pilsen im Vergleich zum Bier von Prag. Abends kotzten wir ins Hotelzimmer und gaben dafür dem Zimmermädchen am nächsten Morgen großzügig ein paar Deutschmark. War ja alles so wahnsinnig billig.

Im Studium ging es dann gerade so weiter: Studienfahrt auf Studienfahrt. Als der Professor einmal vorschlug, nach Florenz zu fahren, wehrte ich mich heftig. Nicht dorthin. Italien niemals. Alles nur Diebe und kein gutes Bier. Aber ich wurde überstimmt, und so hielt unser Bus schließlich abends auf einem belebten Platz inmitten dieser Stadt. Während der Fahrer zu Fuß noch nach dem Hotel suchte, ging ich in die nächste Bar. Als ich wiederkam, war mein Koffer aus dem Bus gestohlen. Seither liebe ich Florenz, weil man da weiß, was einen erwartet.

Insofern überlegte ich nicht lange, als mich vor einigen Wochen ein Oberstudienrat darum bat, seine Schüler auf einer Studienfahrt in die Toskana zu begleiten. Sie wollten die etwa 70 Kilometer von Arezzo nach Florenz über die Berge wandern und ich kannte schließlich die Wege. Ungefähr jedenfalls.

„Alles ginge besser, wenn man mehr ginge“, schreib vor rund 200 Jahren der Sachse Johann Gottfried Seume und machte sich von Grimma zu Fuß auf den Weg nach Syrakus (Sizilien). Im Gepäck hatte er einen blauen Frack, zwei Unterhosen, zwei Taschentücher, Stiefel und Straßenschuhe sowie eine mittelgroße Bibliothek. In den Rucksäcken der 18-jährigen Schüler befanden sich CD-Player, Sonnencreme und eine Notration an Bier. Sowie modernste medizinische Blasenbehandlungspflaster. Letztere sehr zu meinem Wohl, denn schon am Nachmittag des ersten Wandertages kam ich in den uralten Lederstiefeln meines Exschwiegervaters daher wie ein fußkrankes Kalb. Ich, der eigentliche Pfadfinder und Tourguide, humpelte den jungen Springinsfelden hinterher. Mehr als an den Fersen tat das in der Seele weh.

Einer der Schüler, der Zahnweh vorgab und damit die Flasche Wodka begründete, die aus seinem Rucksack lugte, lud sich – wie um mich weiter zu kränken – noch einen schweren Stein in sein Gepäck, den er unbedingt mit nach Hause nehmen wollte. Am ersten Abend sank ich müde ins Gras und bat um Blasenpflaster und einen Schluck aus der Betäubungsflasche. Die Schüler lagerten auf der Wiese und sangen Lieder der Hausbesetzerszene aus den 70er-Jahren. Erst dachte ich, es sei der Wodka. Aber diese schwäbischen Bürgertöchter und -söhne sangen tatsächlich auswendig irgendetwas von „Bonzen rausschmeißen“, von „Keine Macht für niemand“ und: „Was wir da machen, ist verboten“. Komische Wandervögel, dachte ich und schlief ein.

Am zweiten Tag ließ ich mich ein Stück von einem Auto fahren. „Wo alles fährt, geht alles sehr schlecht: man sehe sich nur um! So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt.“ Der gute alte Seume wieder. Als wir schließlich die Vororte von Florenz erreichten, schauten uns die Bewohner mitleidig an. Eine Frau, die mit der Fernbedienung gerade ihren Alpha Romeo öffnete, meinte, es seien schon einmal ein paar Verrückte hier vorbei gewandert. Und ein alter toskanischer Bauer am Wegesrand unterstellte uns doch tatsächlich, wir würden das nur machen, um im nächsten Krieg gegen Italien die Schleichwege der Partisanen im Gebirge auszukundschaften.

Am Bahnhof setzte ich mich barfuß in den Zug zurück. Die Wanderschuhe liegen in einem Mülleimer am Bahnsteig 10.

Fragen zu Wanderschuhen? kolumne@taz.de MONTAG: Peter Unfried über CHARTS