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: Auch Beziehungen können schön sein

Alle halten Abstand und bewegen sich im Takt der Musik. Ich bin gerührt

An einem Donnerstagabend treffe ich eine Freundin am Bahnhof Zoo. Sie hat nur zwei Stunden Zeit, ehe ihr Zug aus der stillgelegten Stadt, die ihr außer Arbeit gerade nichts zu bieten hat, in ihr Exil auf dem Land zurückfährt. Wir verlassen das Bahnhofsgebäude, reißen unsere Masken runter, atmen tief durch und beschließen spazieren zu gehen.

Es ist die erste Woche des „Lockdown light“, und wir erkennen die Kantstraße kaum wieder. Bis auf das matte Licht der Straßenlaternen ist alles duster. Auch das Schwarze Café, in dem ich mir als Jugendliche die Nächte um die Ohren geschlagen habe, ist nicht beleuchtet. Ich habe extra Geld abgehoben, um das Café zu unterstützen. Also wechseln wir die Straßenseite, um durch die Fensterscheiben zu sehen.

An der Tür und im Fenster finden wir keinen Hinweis auf Außerhausverkauf, auch keinen auf eine temporäre oder permanente Schließung. Stattdessen entdecken wir im Innenraum ein Bild, auf dem in großen Lettern steht: „Auch Beziehungen können schön sein.“

In der Küche des Restaurants nebenan wird geschäftig gewerkelt, vermutlich für Online- und Telefonbestellungen. Mein Lieblingsspäti und auch alle anderen mir lieben Orte sind zu. Spontan kaufen wir in einem Restaurant mit österreichischen Weinen die günstigste Flasche und nehmen auf einer Bank davor Platz.

Weil der Kellner, der nun eigentlich Verkäufer ist, uns einen Aschenbecher rausbringt, fühlt es sich an, als säßen wir im Außenbereich eines Restaurants. Nur ohne Tisch und andere Gäste. Das ist uns egal. Wir haben uns lange nicht gesehen und viel zu erzählen. Viel zu früh müssen wir wieder Abschied nehmen.

Vor dem Bahnhof steht eine junge Musikerin und singt, warm eingepackt, ein Best-of der 90er. Nach dem Treffen mit der Freundin möchte ich nicht gleich nach Hause. Also stelle ich mich zu dem Grüppchen um die Straßenmusikerin versammelter Obdachloser, Betrunkener und Passanten. Alle halten Abstand und bewegen sich im Takt der Musik. Ich bin gerührt.

Es kommt mir vor, als hätte ich seit Jahren nicht mehr so intensiv Musik wahrgenommen. Auch die anderen Menschen um mich herum scheinen berührt. Immer mehr Leute bleiben stehen, halten inne und werfen Geld in den Koffer. Vermutlich, denke ich, sind es nicht nur die Stimme und die Songs der Straßenmusikerin, sondern ist es der Liveeffekt, der die besondere Stimmung ausmacht. Bereits nach wenigen Tagen erneuten Lockdowns fühle ich ein großes Bedürfnis nach unmittelbaren Begegnungen, nach geteilten Momenten. Nach Input durch direktes Erleben von Kunst, Musik und Literatur.

Als letztes Lied gibt die Straßenmusikantin eines meiner ersten Lieblingslieder zum Besten: „What’s Up“ von 4 Non ­Blondes. Nichts, denke ich, passt besser in diese absurde Woche mit rasant steigenden Zahlen Corona-Infizierter, Terror in Wien, einem erneuten Lockdown und der trotz klarer Niederlage nicht weichen wollenden menschlichen ­Nuklearbombe im Weißen Haus als die Zeilen aus diesem Song: „And so I wake up in the morning and I step outside / And I take a deep breath and I get real high / And I scream from the top of my lungs / Whats’s ­going on?“

Als die Sängerin sagt, dass sie wegen der Kälte Schluss machen müsse, beschließe ich, ihr das Geld zu geben, das ich im Schwarzen Café ausgeben wollte. Sie hat es sich redlich verdient: Sie hat Menschen für ein paar Minuten die Weltlage vergessen lassen. Eva-Lena Lörzer