: Visconti ohne Sozialarbeiter
KÜNSTLERISCHE INTERVENTIONEN „X Wohnungen“ ruft zur Erkundungstour durch einen Wiener „Problembezirk“. Zusammen mit den Bewohnern wird in Privatwohnungen inszeniert
VON UWE MATTHEISS
Gerät ein Stadtteil in die Schlagzeilen, bedeutet das für seine Bewohner selten etwas Gutes. Die Lebenshaltungskosten werden langfristig ansteigen. Das ist der Fall beim Stuwerviertel, einem Teil des zweiten Wiener Gemeindebezirks. Dieses zur „falschen“ Seite der Stadt gerechnete Quartier gerät in letzter Zeit in den Mahlstrom einer stetig wachsenden Stadt und ihrer Verwertungsinteressen.
Zwei Bedrohungsszenarien
Die Wiener Ausgabe der Theater-Exportmarke „X Wohnungen“ schickt das geneigte Publikum auf Erkundungstour durch eine fixe Idee. Im Stuwerviertel überlagern sich zwei Bedrohungsszenarien im öffentlichen Geschäft mit der Angst: die „Übernahme“ des Quartiers durch migrantische Bevölkerung und seine „Beschmutzung“ durch die Prostitution. Politiker und Boulevardmedien haben das Viertel in ein Amalgam aus Rassismus und Sexismus getaucht, so dass sich der Volksmund an jeder Hausecke kriminelle Asylbewerber oder illegale afrikanische Prostituierte ausmalt. Die Behörden wollen den Pkw-Verkehr der Freier durch Betonbarrieren unterbinden. Mythen, insbesondere die wienerischen, sind maßlos übertrieben. Die Notfallnummer, die die Teilnehmer – immer ein Mann und eine Frau – auf ihrer Tour durch sieben Privatwohnungen erhalten, hilft nicht gegen Räuber und Huren, sondern nur gegen mangelhafte Links-rechts-Koordination.
Anat Stainberg lädt bei der ersten Station in der in wohlig warmen Farben gehaltenen Wohnung der Familie Wimberger samt Kindern zum Versteckspiel. Im Dunkeln hinter der Schlafzimmertür dringen plötzlich Stiefeltritte, Hundegebell und schneidende Kommandos ans Ohr. Überraschend, ja. Aber unangemessen. Die Idee, durch die Analogie des Theaterzeichens auch nur mit einem Wimpernschlag an der Empfindung von Menschen teilzuhaben, denen die Hetzmeute ans Leben ging, erscheint so naiv wie obszön. Hinterher liegen Bücher auf dem Tisch über jüdisches Leben in Wien. Darüber wäre zu reden gewesen, wie vielfältig es vor 1938 gerade im zweiten Bezirk war, dass es hier mit besonderer Brutalität zerstört wurde. Doch das Format zwingt weiter zur nächsten Station.
Wissen um die Praxis
Susanne Kudielka und Kaspar Wimberly ist ihr Hauptdarsteller verloren gegangen. Youssef musste nach abschlägigem Asylbescheid abtauchen. Soll er sich im Untergrund in der Nähe von Lebensgefährtin und Kind aufhalten oder ins Ausland verschwinden? Das Wissen um die österreichische Asylpraxis empfiehlt Letzteres.
Auch die Arbeit von tat ort handelt von Verlusten. Sie stellt das Zimmer eines Bewohners nach, dessen Verschwinden unbemerkt blieb, da er seine Miete weiterzahlte. Händl Klaus und Marco Rop steigern das Memento mit der Installation eines ausgebrannten Elendsraums.
Die Wege zwischen den Stationen schärfen den Blick fürs Habituelle, wie exotisch diese nerdigen Kulturtypen wohl auf die Leute hier wirken? Zwischen bröckelnden Ladenfassaden des alteingesessenen Gewerbes, migrantischen Lebensmittelmärkten, Rotlichtlokalen, heruntergekommen 70er-Jahre-Bauten, deren Fassaden so blind geworden sind wie die Versprechen sozialer Gerechtigkeit, das sie einst hervorbrachte. Wenn man wieder jemand sieht, der hier nicht hergehört, ist man bei der nächsten Station.
Das Stuwerviertel ist nicht so recht greifbar für die kulturelle Vorhut der Gentrifizierung. Eher ist die Demolierung eine städtebauliche Perspektive. Einige Großprojekte nagen schon an dem Tortenstück, das das Stuwerviertel auf dem Stadtplan bildet. Es bleiben Abgesang und Sehnsüchte, wie sie Angela Richter in einem Wohnhaus in Praternähe entfacht, mit hysterisch entrücktem Personal, das gerade einer Schnitzler-Novelle entflohen scheint, Hunden, die zu Mozartarien heulen. Ein Visconti-Film in fünf Minuten – so ganz ohne Sozialarbeiter.