berliner szenen
: Wo ist der Leser geblieben?

Jetzt bin ich eine Berühmtheit“, habe er gesagt und gelacht, als Frau A. ihm die berliner szene zeigte, in der ich ihn als den „Leser der Haltestelle“ beschrieb.

Ich kenne Frau A. nicht. Sie meldete sich per E-Mail bei mir und erzählte, dass sie den Text zufällig entdeckt und G. darin erkannt habe. Frau A. unterhalte sich ab und zu mit dem immer lesenden Mann, der – so erzählt sie weiter – gern Krimis und fantastische Geschichten lese und außerdem ein „Schleckermaul“ sei.

„Er liebt Süßigkeiten jeder Art“, fügt sie als Postskriptum hinzu, „und würde sich freuen, die Autorin der Kolumne kennenzulernen.“

Frau A. ermutigt mich, G. anzusprechen, da ich in der szene vom 31. August auch geschrieben hatte, dass ich mich nicht traute, das zu tun. Sie habe das mal so gemacht: Sie sei plötzlich vor ihm gestanden und habe ihn gefragt, was er denn lese. Um ihn aus den fernen Welten, in denen er sich herumtreibe, in die Realität zurückzubringen, müsse man am Anfang lauter sprechen. Aber wenn man erst einmal seine Aufmerksamkeit habe, sei er voll dabei.

G. sei obdachlos, die Lektüre seine Zuflucht, schreibt Frau A. weiter. Ich verspreche ihr, ihr davon zu berichten, wenn ich ihn treffen sollte, ziehe mit einigen Büchern aus meiner Bibliothek und Schokolade los und mache mich auf die Suche nach G.

Da ich keine Krimis besitze, entscheide ich mich für ein paar Science-Fiction-Titel und hoffe, dass diese Auswahl ihm trotzdem gefallen wird.

Beide Haltestellen, wo er sich normalerweise aufhält, sind aber leer, und ich muss weiter, zur Arbeit.

Ich improvisiere ein Schild, schreibe seinen Namen darauf und hinterlasse die Jutebeutel für ihn an einem seiner Sitzplätze. Seitdem verpasse ich den Leser immer wieder und finde nur Bücher an seiner Stelle.

Luciana Ferrando