: Die Tour der Leidensgefährten
Geks gegen Krapf. Eine Wahrheit-Erzählung von der härtesten Schleife der Welt
Das erste Mal übersäuerte Krapf bei Kilometer 107. Geks lachte sich ins Fäustchen. Krapf sah und hasste es: dieses hämische Grinsen zwischen belgischen Schweinebacken. Aber Krapf war zu kaputt, um sich ärgern. Sein Kopf schwoll wie ein Ballon, er trat schwer und schwitzte wie ein nasser Lappen. Ja, es war heiß, sehr heiß. Aber das durfte nicht passieren. Nicht so früh. Nicht hier. Krapf starrte auf den Lenker, wo neben der Schaltung der Computer blinkte: „Col de Fouches (560 m, 4,5 %, 5 km, 4. Kat.)“. Ein Witz. Ein Maulwurfshügel.
Als es in Adge losging, war Krapf topfit gewesen. Er hatte eine Tasse Kaffee hinuntergespült, dann war er auf sein Kettler Stratos gestiegen und hatte sich eingerollt. Nach dem Frühstück blieb noch Zeit, um die Sportseiten durchzublättern. „Frigo gedopt“, „Voigt ausgeschieden“, „Emig verhaftet“, „Mohren in Ketten“. Die Tour fordert ihre Opfer, dachte Krapf. Und: Wenn das so weitergeht, bin ich das nächste. Aber da konnte Geks lange warten.
Krapf ging aus dem Sattel. Vorne sah er ein Gerolsteiner-Trikot über dem Passrücken verschwinden. Totschnig? Leipheimer? Egal, jetzt bloß nicht abreißen lassen. Er hob den Arm. Gottseidank, Wimmer hatte es gesehen. Auf Wimmer war Verlass. Krapf riss ihm die Flasche aus der Hand und kippte den Inhalt gierig die Kehle hinunter, Sekunden später wäre er fast vom Rad gefallen „Bist du irre?“, keuchte er. „Was ’n das?“ Krapf würgte Schleim. Wimmer hielt sich das Etikett vor die Brille: „Kreatin Monohydrat, mittelkettige Triglyzeride, Zellvoluminizer, Pro-ATP-Nährsubstra …“
„Möschtest du libärr ain Püls“, feixte Gecks von der Seite. Krapf strafte den Welschen mit dem Mercks’schen Kannibalenblick. Der treue Wimmer wischte ihm den Schmand vom Schenkel, steckte ihm Wasser und eine Banane zu. Krapf mampfte ohne den Rhythmus zu verlieren. „Affenkotelett“, rumpelte es dabei durch seinen Schädel, „warum bloß heißen Tour-Bananen Affenkoteletts?“ Es fiel ihm nicht ein, aber er fühlte sich langsam besser.
Er trat nun flüssig eine 42/20er Übersetzung und war wieder im Soll. Über den Col du Paradis („622 m, 4,1 %, 5,8 km, 3. Kat.“) rollte Kraps ohne Probleme. Doch bei Kilometer 191,5 waren sie wieder da. In Regimentsstärke. Es begann damit, dass Krapf Rudi Altig sagen hörte: „Nach dem Krebs hat mein Dickdarm die Funktion des Magens übernommen. Ich fühle mich fit, kann alles essen“. Dann sah er, wie der Mann, den sie die „rollende Apotheke“ nannten, an der Strecke lungerte, zehn Austern knackte, mit Zitrone beträufelte und ganz genüsslich herunterschlürfte.
Am Port de Pailhères („2001 m, 15,2 km, 8 %, 1. Kat“) hörte er die nächste Stimme. Sie klang wie ARD-Urgestein Herbert Watterott. Er sagte: „Unser Tour-Menue heißt heute geschmorte Ente mit Banyuls, dem edelsüßen Dessertwein des Languedoc“ Krapf hielt an. Er musste kotzen.
Totschnig hatte sich inzwischen aus einer Spitzengruppe abgesetzt und nahm die steilen Rampen solo. Zehn Kilometer vor dem Gipfel bliesen Ullrich und Basso zur Attacke. Oben, meldete der Tour-Funk, brenne die Sonne so unbarmherzig, dass der Asphalt suppt. Als Krapf dort ankam, wartete schon der Mann mit dem Hammer. Er sah aus wie der Norweger Thor Hushovd und schlug gnadenlos zu.
Krapf begann zu frieren, die Beine zuckten, und vor den Augen tanzten … Schneeflocken? Weiße Mäuse? Oder war es Geks. Der feiste Geks. Geks, der jetzt in einem Teufelskostüm herumsprang, „Allez, allez“ brüllte und „Quäl disch, du Sau“, überdies einen riesigen Dreizack schwang, den er Krapf wieder und wieder vor die Stirn donnerte.
Krapf schwindelte. Er fühlte das Laktat brodeln, merkte wie die Milchsäure in den Muskeln sickerte und alles verklumpte. „Schlechte Beine“, pochte es zwischen seinen Schläfen, „schlechte Beine.“ Er musste von diesem verfluchten Berg herunter, er musste treten. Bis ans Limit. Und er trat. Er schaffte es über die Kuppe, schmiegte sich an den Carbonrahmen und rauschte die Abfahrt hinunter an den Fuß der letzten Steigung hinauf nach Ax Trois Domaines („1372 m, 9,1 km, 7,3%, 1. Kat.“), rauschte vorbei an Winokurov, vorbei an Klöden und Leipheimer, ließ Ullrich und Basso stehn, sprang an Amstrongs Hinterrad, hängte ihn ab, überspurtete Totschnig und flog ins Ziel, wo Monika Lierhaus ihm schon den bebendem Busen und ein erigiertes Mikrofon entgegenstreckte. Dann wurde es plötzlich dunkel. Das letzte, woran er sich erinnerte, war ein idiotisches Epigramm von Günther Grass: „Als die Spitzengruppe von einem Zitronenfalter überholt wurde, gaben viele Radfahrer das Rennen auf.“
Krapf erwachte neben dem Hometrainer. Geks tätschelte ihm die Wange. Wimmer sagte: „Oxidativer Stress, zu viele freie Radikale im Blut“. Krapf musterte die Freunde, musterte die Bücherwand, die sich pyränäenhoch zur Decke streckte, musterte den rammenternden Fernseher, wo Etappensieger Totschnig gerade die Hände in den Himmel reckte. Dann lächelte er und seufzte: „Okay, Jungs, ich habe nur eine Wette verloren, aber die Tour geht weiter.“
MICHAEL QUASTHOFF