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Archiv-Artikel

Geschmückte Tannenbäume im Juli!

Die lettischen Schwulen und Lesben dürfen heute doch legal durch die Hauptstadt Riga ziehen. Das am Mittwoch ausgesprochene Verbot des „Rigas Praids“ wurde gestern Mittag aufgehoben. Die Parade hätte allerdings auch ohne offizielle Genehmigung stattgefunden: Es ist längst an der Zeit

VON BARBARA OERTEL

„Wir werden am Wochenende auf jeden Fall marschieren und dann ein erstes Massen-Coming-out erleben“, sagte Maris Sants letzte Woche entschlossen. Der schwule Pastor, längst von der Evangelischen Kirche Lettlands ausgeschlossen, hat die Schlagzeilen der nächsten Tage sicher: Trotz eines kurzfristig ausgesprochenen Verbots wird heute in der lettischen Hauptstadt Riga Lettlands erster Homo-Aufmarsch, Rigas Praids 2005, stattfinden. Das von der Stadtdirektion ausgesprochene Verbot wurde vom Rigaer Verwaltungsgericht in 1. Instanz aufgehoben. Bis zu 300 einheimische Schwule und Lesben wollen am Nachmittag durch die Altstadt ziehen, unterstützt von Gleichgesinnten aus Finnland, Schweden, Litauen, Estland und Russland. Danach wird Maris Sants im Namen der offenen evangelischen Kongregation und in den Räumen der anglikanischen Kirche für alle Teilnehmer einen Gottesdienst abhalten, bevor am Abend in den einschlägigen Clubs gefeiert wird – offiziell gibt es deren allerdings nur drei in Riga, allesamt mit schweren Eisentüren bewehrt.

Initiator und Organisator von Rigas Praids 2005 – nach der estnischen Hauptstadt Tallinn im vergangenen Jahr das zweite derartige Event auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion – ist die „Jugendgruppe zur Unterstützung von Schwulen und Lesben“. „Solche Veranstaltungen sind in demokratischen Staaten bereits Tradition. Sie sind ein besonderer Gradmesser, der anzeigt, ob die Gesellschaft in einem Staat die allgemein akzeptierten Prinzipien von Demokratie, Freiheit, Toleranz, Menschenrechten, Politik und Kultur verinnerlicht hat“, heißt es in einer Erklärung der Organisation.

Ein christlicher Staat

Doch davon scheint das kleine baltische Land, das seit Mai 2004 Mitglied der Europäischen Union ist, noch weit entfernt zu sein. Denn der „besondere Gradmesser“ ist längst zum Politikum geworden. Am vergangenen Mittwoch sagte Rigas Stadtdirektor Eriks Skapars die Parade kurzerhand ab. Zur Begründung hieß es, man wolle gewalttätige Auseinandersetzungen mit rechtsradikalen Gruppierungen vermeiden, die angekündigt hatten, den Zug durch die Altstadt zu blockieren.

Von Ängsten vor Randale war bei einem Fernsehauftritt des lettischen Regierungschefs Aigar Kalvitis wenige Stunden zuvor allerdings keine Rede. „Dass in unsere Hauptstadt, im Herzen Rigas, eine Parade sexueller Minderheiten stattfindet, das ist einfach unzulässig. Wir sind ein Staat, der auf christlichen Werten gründet“, sagte Kalvitis in der TV-Sendung „900 Sekunden“.

Damit befindet sich der Regierungschef in bester Gesellschaft mit den etablierten Kirchen des Landes. Die machen seit Wochen Stimmung gegen die Homo-Parade. So geißelte Janis Pujats, Kardinal der römisch-katholischen Kirche, Homosexualität als Sünde und Verstoß gegen die Gebote Gottes.

Doch nicht nur die üblichen Verdächtigen marschieren in der ersten Reihe der Proteste mit. Ganz besonders hervor tut sich die erzkonservative Erste Partei Lettlands (LPP), die in der derzeitigen Koalitionsregierung sitzt. So forderte der Chef der LPP und stellvertretende Bürgermeister von Riga, Juris Lujans, vor drei Tagen die Vertreter aller Kirchen auf, am heutigen Sonnabend an einem ökumenischen Gottesdienst teilzunehmen, um dort für den Erhalt familiärer Werte zu beten. Der Vorsitzende der LPP-Fraktion im lettischen Parlament, Janis Schmits, setzte noch eins drauf und führte sogar die Verfassung ins Feld, um die Parade verbieten zu lassen. So schütze das lettische Grundgesetz, argumentierte Schmits, nicht nur Familie, Ehe sowie die Rechte von Eltern und Kindern. Auch könnten Grundrechte eingeschränkt werden, wenn es gelte, die Rechte anderer Bürger, den demokratischen Staatsaufbau, die Sicherheit der Gesellschaft sowie Wohlstand und Moral zu verteidigen.

Lichtblicke in letzter Sekunde

Eine derart kreative Verfassungsauslegung angesichts von 300 feiernden Schwulen und Lesben löst bei den Koalitionspartnern massive Verärgerung aus. Schließlich brachten auch sechs LPP-Minister der Vorgängerregierung das so genannte Nationale Programm zur Förderung von Toleranz mit auf den Weg. Das Programm unter Federführung des Ministeriums für soziale Integration wurde im vergangenen August beschlossen und hat eine Laufzeit von fünf Jahren. Ziel ist es, die Gesellschaft für die Probleme von Minderheiten zu sensibilisieren, Vorurteile abzubauen sowie Diskriminierungen entgegenzuwirken – Schwule und Lesben ausdrücklich mit eingeschlossen.

„Vor einem Monat hätte ich gesagt, dass unsere Bemühungen keine Wirkung gehabt haben“, sagt ein Mitarbeiter des Ministeriums. Seit Anfang des Monats jedoch gebe es einen Lichtblick. So mache die größte lettische Tageszeitung Diena (Der Tag) Probleme des Umgangs mit Minderheiten zum Thema einer Kolumne.

Das Gerichtsurteil vom Freitag ist ein weiteres wichtiges Signal für die lettische Gesellschaft. Immerhin gaben laut einer Umfrage vom vergangenen August 38 Prozent der befragten Letten und 37 Prozent der befragten Russen, die mit 28,8 Prozent die mit Abstand größte Minderheit in dem 2,3-Einwohner-Staat stellen, an, Homosexuelle nicht als Nachbarn haben zu wollen.

„Ich bin nervös“, räumt der Kommunikationswissenschaftler Deniss Hanovs ein, der seine Homosexualität längst nicht mehr verheimlicht. „Gewalttätige Auseinandersetzungen sind durchaus möglich.“ Die Letten seien jetzt auf dem Stand der Adenauer-Zeit in Deutschland. Homos und Lesben trauten sich nicht, sich zu outen. „Wenn alte Frauen zwei Männer in Riga sehen, die Händchen halten, reagieren sie so, als ob sie einen geschmückten Tannenbaum im Juli sehen“, sagt Deniss Hanovs.

Dennoch ist sich Hanovs sicher, dass jetzt in Lettland ein Stück Emanzipationsgeschichte geschrieben wird. „In welche Richtung wir gehen und wie lange das noch dauern wird“, sagt er, „das kann im Moment niemand sagen.“