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Archiv-Artikel

Perspektivlosigkeit raubt Würde

„Arbeitswelt und Menschenwürde“ ist eines der zentralen Themen auf dem deutschen Sozialforum. Zu Recht – in der Arbeitswelt muss mehr Demokratie gewagt werden

Arbeit ist ein rares Gut geworden. Darum gilt die verinnerlichte Form der Herrschaft nicht als zynisch

Gegenwärtig werden auf dem ersten deutschen Sozialforum in Erfurt soziale, ökologische und friedenspolitische Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit gesucht. Unter der Fragestellung „Wie wollen wir leben und arbeiten?“ wird dem Thema „Arbeitswelt und Menschenwürde“ zu Recht eine zentrale Bedeutung zuerkannt.

Übertragen wir den pathetischen Begriff der Menschenwürde auf die alltäglichen Zumutungen im Arbeitsleben, so stellt sich Frage: Wie viel müssen die Menschen sich gefallen lassen? Im Leben außerhalb der Arbeit gilt, dass jeder Mensch als Bürger das Recht hat, informiert und angehört zu werden. Diese kulturelle Errungenschaft ist in Artikel 1 des Grundgesetzes festgelegt. Dort heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Worin besteht nun die Würde eines Menschen? Es ist schwierig, dies allgemein gültig zu bestimmen. Leichter ist es, zu sagen, wann die Würde eines Menschen verletzt wird, beispielsweise wenn Menschen gequält oder ausgegrenzt werden.

Der Begriff der Menschenwürde charakterisierte in der Phase des aufkommenden Bürgertums einen Menschen mit individueller Persönlichkeit, der eigenständig und eigenverantwortlich handelt. Unabdingbare Voraussetzung für die freie Entfaltung der Person ist die private finanzielle Unabhängigkeit.

Der fortschrittliche Gedanke dabei war, dass überholte Abhängigkeiten der feudalen und ständischen Gesellschaft überwunden wurden. In der aufkommenden kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft sollte mit dem Verweis auf die Menschenwürde ein Rest für die Menschen bewahrt werden, der nicht der beginnenden Ökonomisierung aller menschlichen Beziehungen unterliegen sollte. Ausgespart von dieser Bestimmung von Menschenwürde blieben die besitzlosen Proletarier, die einen Teil ihrer Person – nämlich ihre Arbeitskraft – verkaufen mussten, um mehr schlecht als recht leben zu können. Heute muss es darum gehen, den im Grundgesetz verankerten Anspruch neu zu formulieren, um die Funktion dieses Artikels als Gegenprinzip zu menschenverachtenden Vorstellungen wieder neu zu beleben. Erhalten bleibt die Diskrepanz des Anspruchs auf Menschenwürde im bürgerlichen Leben und im Arbeitsleben. Die Ausprägungen haben sich jedoch im Laufe der Zeit wesentlich verändert.

Auch in früheren Perioden der Industrialisierung war die Arbeitsordnung in den kapitalistischen Unternehmen für die Arbeiter und Arbeiterinnen unwürdig, weil sie nicht als „eigensinnige“ Menschen mit einem schöpferischen Willen begabt wahrgenommen wurden, die den betrieblichen Ablauf mitgestalten, über Produkte mitentscheiden und den sie unmittelbar betreffenden Arbeitsprozess beeinflussen konnten. In den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden große Hoffnungen mit dem Programm der „Humanisierung der Arbeit“ der damaligen Bundesregierung verbunden.

Ein höheres Maß an Eigenverantwortung, Autonomie und Selbstbestimmung im Arbeitsprozess sollte durch arbeitsorganisatorische Maßnahmen wie Jobrotation, Gruppenarbeit, Qualifizierung und Partizipation der Beschäftigten erreicht werden. Nun hat sich vor allem im Verlaufe der 90er-Jahre gezeigt, dass vor dem Hintergrund veränderter ökonomischer Bedingungen diese arbeitsorganisatorischen Veränderungen nicht unbedingt zu einem Zuwachs an Autonomie und Selbstbestimmung der abhängig Beschäftigten geführt haben

Für die Reklamation der Menschenwürde im Arbeitsalltag sind vor allem zwei Entwicklungen der kapitalistischen Arbeitsorganisation hervorzuheben, deren Existenz „revolutionäre“ Rückwirkungen auf die Unternehmensorganisation und negative Auswirkungen auf die arbeitenden Menschen haben. Unter den Bedingungen verschärfter Konkurrenz, bedingt durch die „Globalisierung“, hat die Shareholder-Value-Orientierung zugenommen, wie auch die marktförmige Organisation unternehmerischen Handelns und innerbetrieblicher Prozesse. Diese Veränderungen haben zu einer grundlegenden Revision betrieblicher Herrschaft geführt. Selbstbestimmung und Autonomie bilden die Voraussetzung dafür, dass die Individuen selbsttätig die jeweiligen Anforderungen erfüllen, ohne Anweisungen von Vorgesetzten zu erhalten oder ohne dass ihnen Bestrafungen angedroht würden. Arbeitsorganisatorische Voraussetzung dafür sind neue Managementkonzepte, deren Elemente flache Hierarchien, Vernetzung und Partizipation darstellen.

Arbeit ist ein rares Gut geworden. Das mag als Grund dafür gelten, dass im avancierten Kapitalismus die verinnerlichte Form der Herrschaft nicht als Zynismus begriffen wird. Begründet durch den Konkurrenzdruck, werden extensive Formen der Ausnutzung von Arbeitskraft durchgesetzt. Sämtliche Regelungsmechanismen, die die Tarifvertragsparteien ausgehandelt haben oder der Staat zum Schutze der Arbeitskraft erlassen hat, stehen zur Disposition. Lange Zeit gab es ein Alltagsbewusstsein davon, dass Tarifverträge oder Arbeitsschutzgesetze rechtmäßig erworbene Ansprüche darstellen. Der ständige Druck von Wirtschaftsverbänden, Politikern und Journalisten, von denen auf die zu hohen Arbeitskosten, Steuern et cetera sowie auf das Anspruchsdenken und Sozialschmarotzertum hingewiesen wird, hat dazu geführt, dass in der Öffentlichkeit der Widerstandswille erlahmt ist. Stattdessen hat sich eine passive Zustimmung breit gemacht, die hoffentlich durch viele Diskussionen auch auf dem Erfurter Sozialforum aufgebrochen wird.

Heute muss es darum gehen, den im Grundgesetz verankerten Anspruch neu zu formulieren

Neben den Millionen Arbeitslosen bilden die prekär Beschäftigten eine immer größer werdende Gruppe, deren Existenz durch Unsicherheit und Perspektivlosigkeit charakterisiert ist. Gemeinsame Kennzeichen der in Teilzeit Beschäftigten, wie der Leiharbeiter, der abhängig Selbstständigen, der Mini- oder Gelegenheitsjobber, gar nicht zu reden von den 1-Euro-Jobbern, sind eine Bezahlung unterhalb des Existenzminimums, eine unsichere Beschäftigungsperspektive und damit verbunden eine Unsicherheit des Lebens.

Die Perspektive zur Veränderung dieser Verhältnisse wird nicht darin zu sehen sein, dass sich die Forderung auf die Wiedereinführung des „Normalarbeitsverhältnisses“ beschränkt. Um weiteren Spaltungen innerhalb der Beschäftigten vorzubeugen, muss das Problem der Prekarisierung politisiert werden und müssen kurzfristig „untere Haltelinien“ eingezogen werden, um der Angst vor dem völligen Absturz zu begegnen. Diese können in Mindeststandards für Lohn, Arbeitszeit und sozialer Absicherung bestehen. Menschenwürde in der Arbeitswelt heißt, dafür einzutreten, dass restaurative Tendenzen nicht hingenommen, sondern Demokratie in der Arbeitswelt gewagt wird. Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung stellen Gewaltakte dar, die die Menschen um ihre Würde bringen.

URSULA SCHUMM-GARLING