: Wahlkämpfer am Boden
Viele Politiker haben das Gefühl, dass dieser Wahlkampf irgendwie irreal ist. Denn die Siegerin steht eigentlich schon fest
AUS BERLINULRIKE WINKELMANN
Nicht allzu häufig beansprucht ein einzelner Abgeordneter den großen Saal der Bundespressekonferenz in Berlin. Doch der Grüne Werner Schulz ließ es sich gestern Vormittag nicht nehmen, erneut zu erklären, warum er gegen das „Ja“ des Bundespräsidenten zu Neuwahlen vors Bundesverfassungsgericht ziehen werde. Dazu sucht man schon einmal die große Bühne. Schultz sagte: „Ich teile nicht die Euphorie, dass Neuwahlen das Beste für unser Land sind.“
Zuvor hatten von der Automobilindustrie über den Gewerkschaftsbund und quer durch die Parteien wirklich alle Pressemitteiler des Landes ihre Erleichterung verkündet. Bundespräsident Köhler hatte am Donnerstagabend den Weg zu vorgezogenen Bundestagswahlen am 18. September freigegeben. Die Krise sei groß, die Regierungsfähigkeit des Kanzlers bedroht, eine Wahl zur Stabilisierung der Verhältnisse nötig.
Schulz argumentierte nun gestern in umgekehrter Richtung: „Möglicherweise ahnen wir noch nicht die Turbulenzen, die sich im Bundestag durch Neuwahlen ergeben“, sagte er. Wenn ständig davon gesprochen werde, dass eine Mehrheit der Bevölkerung für Neuwahlen sei, so sei diese „künstlich erzeugt“, erklärte Schulz. Aus den Umfrageergebnissen spreche weniger eine ernsthafte „Sehnsucht“ nach neuer Regierungslegitimation als vielmehr eine „Lust auf Ab- und Protestwahl“.
Die Umfrageergebnisse verrieten auch gestern, dass die Wählerinnen und Wähler derzeit schwer in Bewegung sind: Im „ZDF-Politbarometer“ verlor die Union weiter und landete bei 43 Prozent, die SPD rutschte ebenfalls weiter ab auf 26 Prozent. Die Linkspartei steigerte sich auf 10 Prozent und lag gleichauf mit den Grünen. Nur die FDP verharrte bei 7 Prozent.
Andere Erhebungen zeigen ebenso, dass eine zunächst sichere Mehrheit von Union und FDP langsam bröselt. Auch verliert die Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel wieder an Punkten gegenüber dem noch amtierenden Gerhard Schröder. Der ehemalige Chef-Wahlkämpfer der SPD, Matthias Machnig, erklärte dies gestern der taz so: „Dass Merkel jetzt schon die gefühlte Kanzlerin ist, ist ihr zentrales Problem: Jede Krise ist nun auch ihre Krise.“
Die etablierten Parteien sind verwirrt, dass die Wähler auf die unvorhergesehenen Neuwahlen mit Unberechenbarkeit reagieren. Merkel verfügt lediglich nach Ansicht der Westwähler über einen Ostbonus – tatsächlich würden die Ostwähler jedoch die PDS/Linkspartei zur stärksten Kraft machen. Die Union verkündet nunmehr täglich, sie werde keinen gesonderten Ost-Wahlkampf machen – und setzt doch darauf, dass die Ost-CDU-Wahlkämpfer die Seele des Ost-CDU-Wähler schon irgendwie ansprechen werden.
Die SPD aber leidet am stärksten unter dem Spagat zwischen Agenda 2010 und Anspruch auf soziales Profil. Hin und her gerissen ist sie zwischen Vorwürfen an die eigene Linke – diese habe den Kanzler zu Neuwahlen gedrängt – und der Befürchtung, dass nun die Linkspartei diktieren wird, was unter sozialer Gerechtigkeit zu verstehen ist.
„Wir sind von einer Mauer der Verunsicherung und Irrationalität umstellt“, sagte gestern der Fraktionsvize Michael Müller zur taz. Die verfassungsmäßigen Verrenkungen rings um die Vertrauensfrage hätten den Wahlkampf bislang in Unwirklichkeit schweben lassen. „Doch jetzt hoffe ich, dass Schröder und Fischer und Müntefering zu einer Ernsthaftigkeit zurückfinden.“ Die Wähler müssten das Gefühl bekommen, die SPD diskutiere wieder die Fragen von morgen, „die Gestaltung der Weltordnung“.
Um das Gefühl der Irrealität aus dem Wahlkampf zu nehmen und die Wähler zu bändigen, raten die Parteienkenner und -forscher besonders den größeren Parteien zu „Bodenkrieg statt Luftkrieg“ – im Jargon: „ground war“ statt „air war“. Zu sehr hätten die Parteien auf die Beherrschung der Medien, besonders der Bildschirme gesetzt. Stattdessen jedoch gewänne man die Menschen nach angloamerikanischem Vorbild durch direkte Ansprache, erklärt etwa der CDU-Berater Peter Radunski.
Doch dank Sommerferien und der Abwesenheit von allem Regierungshandeln wird in den kommenden Wochen vermutlich kaum die Stimmung eines wirklichen Wettbewerbs um das beste Konzept aufkommen. Eine Sitzungswoche hat der Bundestag noch Anfang September. Was dann noch stattfindet? „Keine Ahnung“, sagen die befragten Politiker. „Irgendetwas wird aus den Ausschüssen schon noch kommen.“