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Archiv-Artikel

Horst Köhlers tauglicher Versuch

Sollte Karlsruhe die Neuwahl beanstanden, müssten nicht Köhler, sondern die Verfassungsrichter zurücktreten

FREIBURG taz ■ Karl Carstens hatte es schwerer. Als er 1983 den Bundestag auflöste, um Helmut Kohl vorzeitige Neuwahlen zu ermöglichen, gab es noch keinerlei Rechtsprechung aus Karlsruhe. Später sagte Carstens, er wäre sofort von seinem Amt als Bundespräsident zurückgetreten, wenn das Verfassungsgericht die Neuwahlen gestoppt hätte.

Horst Köhler ist demgegenüber in einer komfortablen Position. Er und seine Juristen konnten das Karlsruher Urteil von 1983 studieren und mussten nur den richterlichen Vorgaben folgen. Sollte Karlsruhe die Auflösung des Bundestags nun doch beanstanden, hätte Köhler keinerlei Grund sein Amt niederzulegen. Wer sollte ihm einen Vorwurf machen, wenn er dem Wort der Richter vertraut? Zurücktreten müssten dann eher die Verfassungsrichterinnen und -richter, aus Scham über einen solchen Zickzack-Kurs.

Köhler jedenfalls hat sich bis in die Wortwahl hinein am Karlsruher Urteil von 1983 orientiert. Der Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis drückte es ganz drastisch aus: „Köhlers Juristen haben ihm wohl empfohlen, genau auf der Schleimspur des Karlsruher Urteils von 1983 zu bleiben.“

So wählte Köhler in seiner Rede den gleichen Maßstab wie das Bundesverfassungsgericht. Entscheidend sei, ob der Kanzler noch eine stetige und verlässliche Basis für seine Politik sieht oder nicht. Wie Karlsruhe stellte Köhler also auf eine Prognose des Bundeskanzlers für die Zukunft ab.

Er nimmt damit zugleich denen den Wind aus den Segeln, die vor allem mit der Vergangenheit argumentieren. „In dieser Legislatur ist noch kein rot-grünes Gesetzesvorhaben im Bundestag gescheitert“, sagt etwa Werner Schulz, der Grünen-Abgeordnete, der in Karlsruhe gegen die Neuwahl klagen will. Für Köhler kommt es darauf nicht an. Er verweist auf die Darstellung des Kanzlers am 1. Juli im Bundestag. „Ihm werde mit abweichendem Abstimmungsverhalten und Austritten gedroht“, referierte Köhler, „Loyalitätsbekundungen aus den Reihen der Koalition hält der Bundeskanzler vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme nicht für dauerhaft tragfähig.“

Köhler weiß, dass diese Darstellung umstritten ist. Aber er weiß auch, dass er nur ein eingeschränktes Prüfungsrecht hat. „Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1983 hat der Bundespräsident die Einschätzung des Bundeskanzlers zu beachten, es sei denn, eine andere Einschätzung ist eindeutig vorzuziehen“, erläuterte Köhler am Donnerstag. Er könnte die Zweifel des Kanzlers an einer stetigen Parlamentsmehrheit also nur zurückweisen, wenn diese völlig aus der Luft gegriffen wären, was Köhler aber naheliegenderweise verneinte.

Zuvor hatte der Präsident auch noch einmal mit SPD-Fraktionschef Franz Müntefering gesprochen, der am 1. Juli für gehörige Irritationen sorgte, als er am Ende seiner Rede im Bundestag sagte: „Wir sind uns einig, dass der Bundeskanzler das Vertrauen der SPD-Fraktion hat und dass wir ihn weiter als Bundeskanzler wollen.“ Gegenüber Horst Köhler hat Müntefering jetzt wohl klargestellt, dass das nicht ganz ernst gemeint war. „Die Lagebeurteilung des Bundeskanzlers hat mir auch der Vorsitzende der SPD-Fraktion aus seiner Sicht bestätigt“, hieß es hierzu bei Köhler.

Alles dreht sich in der Rede also um die Einschätzung des Kanzlers. Gerade hieran macht Werner Schulz aber auch seine Kritik fest: Die vorzeitige Auflösung des Bundestags mache aus Deutschland eine „Kanzlerdemokratie“. Künftig reiche das „gefühlte Misstrauen des Kanzlers“, um das Parlament nach Hause zu schicken.

Die Beschreibung von Schulz ist nicht falsch, die Entwicklung kann aber nicht Köhler angelastet werden. Die Maßstäbe hat eben schon Karlsruhe vor zwanzig Jahren gesetzt. „Damals hat das Bundesverfassungsgericht eine weiche und großzügige Interpretation des Grundgesetzes geprägt“, sagt etwa der Freiburger Staatsrechtler Rainer Wahl, „jetzt kann es diesen Geist nicht wieder in die Flasche zurückholen.“

Sein Osnabrücker Kollege Jörn Ipsen sieht darin auch keinen Systembruch: „Die starke Stellung des Bundeskanzlers ist im Grundgesetz angelegt, Deutschland war immer eine Kanzlerdemokratie.“

Ipsen hält es für „undenkbar“, dass sich Karlsruhe jetzt noch gegen Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident stellt, wo diese gerade versuchten, die Vorgaben des Gerichts in ihrer Argumentation möglichst genau aufzugreifen. Zahlreiche andere Rechtsprofessoren äußerten sich gestern ähnlich. Horst Köhler kann also ruhig schlafen.

Und für all diejenigen, die sehr darunter leiden, dass der Bundestag seine Amtszeit um ein Jahr verkürzt hat, hält Politologe Hennis ein Rezept parat: „Ich werde am 18. September einen ungültigen Stimmzettel abgeben und mich an dieser Trickserei nicht beteiligen.“

CHRISTIAN RATH