Liste voller Lebensbejahung

Im Solo-Stück „All das Schöne“ kämpft eine junge Frau nach dem Suizid ihrer Mutter gegen die eigene Depression. In Hamburg und Bremen kommt das Stück ganz unterschiedlich auf die Bühne: als lebensbejahendes Jugendstück und als melancholischer Blick einer erwachsenen Frau zurück

Pointierter, erwachsener Blick zurück: Susanne Schrader führt in Bremen souverän lässig durch den Abend Foto: Jörg Landsberg

Von Jens Fischer

Todernst und zugleich heiter an den Absturzklippen der Verzweiflung entlangbalancieren: So stellt man sich am Theater Bremen und auf der großen Probebühne des Hamburger Schauspielhauses vor, wie ein Kind bemerkt, dass sich die geliebte Mutter sukzessive zurückzieht. Denn die ist zwar innerlich getrieben und angespannt, aber eben auch ermüdet vom ständigen Zweifel an sich und der Welt. Da ihre Stressverarbeitung nicht mehr gesundheitsdienlich funktioniert, ist die Psyche massiv unter Druck gesetzt und schützt sich vor den Folgen – einer besonderen Empfindsamkeit und Verletzlichkeit –, indem sie freud- und interessenlos in eine innere Leere gleitet, eine lähmend empfundene Einsamkeit: Depression.

Laut einer Erhebung des Bundesgesundheitsamtes leiden in Deutschland 14 Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer an depressiven Erkrankungen, also etwa sechs Millionen Menschen. Werden die Folgen von Außenstehenden noch als Disziplinlosigkeit, Mimosenhaftigkeit und Lieblosigkeit oder schlicht als Scheitern beurteilt, erkennt das Kind im Theaterstück „All das Schöne“ auch die Not der Mutter. Wie sich diese auf die Angehörigen auswirkt, macht der Text ebenfalls deutlich.

Zwei Jahre hat der britische Dramatiker Duncan Macmillan mit dem Stand-up-Comedian Jonny Donahoe während öffentlicher Proben experimentiert, wie der paralysierende Brocken lebendig und humorsanft zum Schweben gebracht werden kann – nämlich mit einem für Interaktionen weit offenen Monolog des Kindes.

Das sagt: „Es ist ungerecht, dass man das fühlt, aber man fühlt sich schuldig.“ Also mitverantwortlich für die Krankheit und die Genesung. Aus dieser Haltung heraus, aber auch aus Frust, Ärger und Enttäuschung, selbst nicht Grund genug für die Mutter zu sein, das Leben lebenswert zu finden, entwickelt das Kind eine Strategie, die das depressive Abdriften nicht ausweglos, sondern heilbar erscheinen lassen soll. Es geht um Einübung in Widerstand, auch zum eigenen Wohl.

Diese dramatische Ausgangslage gefiel Klaus Schumacher, Chef des Jungen Schauspielhauses Hamburg, wohl so gut, dass er Franziska Stuhr als Regisseurin engagierte, um den Stoff für seine Sparte mit Genet Zegay, Jahrgang 1992, zu inszenieren – er selbst brachte ihn in Bremen mit Susanne Schrader, Jahrgang 1969, zur Premiere.

Das U30- und das Ü50-Team realisierten völlig unterschiedliche Ansätze: In Hamburg bebt der existenziell berstende Text einer jungen Frau auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt – in Bremen wird die Vorlage als pointenreich souveräner Blick zurück in Empathie von einer erwachsenen Frau zelebriert. Was funktioniert besser?

Befreit von jedwedem Bühnenbild spielt Schrader in Bremen vor dem Eisernen Vorhang und zwischen den Parkettreihen. In Hamburg ist der Theaterraum von einem Plastikvorhang begrenzt und es gibt ein paar betont notdürftig zusammengebastelte Rückzugsinseln zum Monologisieren. Dazwischen abgeklebt, befindet sich eine Spielfläche, in der coronabedingt nur Zegay herumtigern darf: mit den Erinnerungen ihrer Figur an die Zeit, als diese sieben Jahren alt war und der Vater sagte: „Deine Mutter hat was Dummes gemacht.“ Erster Suizidversuch. Knapp gescheitert.

Überlebenskünstlerin

Zurückversetzt in die Kindheit, erzählt die Protagonistin, sie habe weglaufen wollen, aber nicht gewusst, wohin. Sie habe sich daher entschlossen, aus der eigenen Sprachlosigkeit auszubrechen, damit Mama nie wieder traurig ist. Ihr zuliebe listet sie Dinge, Erlebnisse, Gefühle auf, die das Dasein lebenswert machen.

Jahre später weiß die Tochter, wie unsinnig das war. Depressiven mangelt es nicht an Argumenten zum Lebensmut, sie sind psychisch schwer erkrankt. Was die Tochter mitgenommen hat aus der Zeit, ist der innige Wunsch, Depression nicht als Erbschaft annehmen zu müssen. Und doch erlebt sie genau das, ihre erste Beziehung scheitert daran. Also gilt es, sich erneut aufzubäumen. Was als Trauerbewältigung begann, wird zum Lebensprojekt gegen den inneren Drang, sich selbst aufzugeben – die therapeutische Liste also nach dem Tod der Mutter fortgesetzt. Das schafft Klarheit darüber, was wirklich wichtig ist. Die Selbsterkenntnis all des Schönen ist Überlebenskunst.

Klaus Schumacher inszeniert in Bremen zurückhaltend, Franziska Stuhr kostet in Hamburg emotionale Höhe- und Tiefpunkte aus, schreckt vor Stille in Verzweiflungs­momenten nicht zurück

So erzählen es Zegay und Schrader, geschickt changierend zwischen ihrer Rolle und der Funktion, Conférencieuse und Animateurin zu sein. Unbekümmert setzen sie auf Partizipation. Was sonst häufig peinlich erzwungen und aufdringlich wirkt, geschieht hier froh und offenherzig. Zuschauer stellen als Anspielpartner einen Tierarzt, Lehrer, eine Psychologin, den Vater oder Freund dar und alle Besucher skandieren per Aufruf auch Teile der Lebenslustliste in den Saal, werden so zu einem vielstimmigen Chor der Lebensbejaher. Durch die Interaktion entsteht eine temporäre Gemeinschaft und damit auch beiläufig die Botschaft, dass der Kampf gegen Depression als gemeinsame Anstrengung gelingen kann.

Der Sprachduktus des Stückes ist eher der von Twentysomethings, kann also an der Alster altersgemäßer einverleibt werden. Susanne Schrader aber wirkt jung geblieben mit dem Text, wie sie freundlich souverän durch den Abend führt, mal in lässiger Vortrags-, mal in dezent kecker Comedy-Manier. Im Gegensatz zu dieser entspannt retrospektiv gestimmten Aufführung fürs Abendspielplanpublikum gestaltet Genet Zegay mit kinder- und mädchenstrahlender Mimik eine aufwühlend wuselig nach vorn in die Zukunft gerichtete Performance für Menschen ab 13 Jahren. Während Schrader ihr Publikum leichthin mit einbezieht, kämpft Zegay um es. Auch um die Sichtweisen ihrer Figur, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Angst, allein gelassen zu sein mit ihrem Helferimpuls.

Melancholie und Vitalität

Klaus Schumacher inszeniert in Bremen zurückhaltend, Franziska Stuhr hingegen kostet emotionale Höhe- und Tiefpunkte mitreißend aus, schreckt vor ohrenbetäubender Stille in Verzweiflungsmomenten nicht zurück und setzt Passagen zum Innehalten deutlich ab, wenn es etwa um das kristallklare Begreifen der Protagonistin geht: Warum will jemand nicht mehr weiterleben? Wofür sie sich hinter den Plastikplanenschutz zurückzieht, damit keine Ansteckungsgefahr für suizidale Gefühle und Gedanken besteht. Mutig tobt sie aber am Ende, gepusht von Musikzuspielungen, durch diese Lamellenwand von der Bühne – den Möglichkeiten ihres Daseins entgegen. Schrader hockt sich summa summarum nachdenklich an die Rampe und lauscht melancholisch knisternder Musik von einer Vinylplatte.

Das ist ein geradezu regiealtmeisterliches Sinnbild der Inszenierung, während in Hamburg die Grenzen auslotende Vitalitätsbehauptung punktet. Wo Schrader die Co-Abhängigkeit von der mütterlichen Depression bedauert, gewinnt Zegay die aufwühlende Auseinandersetzung damit. Der leidenschaftliche Aufstand überzeugt mehr als die abgeklärte Selbstverständigung über eine schwierige Kindheit, grummelnde Traurigkeit und Liebessehnsucht. Auf ihre Art gelungen sind beide Inszenierungen.

„All das Schöne“: Bremen, Theater am Goetheplatz: Do, 12. 11., 19.30 Uhr, So, 15. 11., 15 Uhr; Hamburg, Schauspielhaus/Große Probebühne: Zurzeit sind alle Aufführungen ausverkauft

Wenn Sie selbst traurige Gedanken haben oder sogar an Suizid denken, gibt es eine Vielzahl von Hilfsangeboten. Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr und kostenfrei Beratung: ☎0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222 oder 116 123. Auf www.telefonseelsorge.de können Sie auch mit einem oder einer Seelsorger*in chatten