piwik no script img

Archiv-Artikel

Von Abstürzen und Weserquallen

Dass der DFB zu klamm war, um Ersatzspieler für die Nationalelf einzubestellen, ist nur eine von vielen Anekdoten, die Bernd Jankowski, Harald Pistorius und Jens-Reimer Prüß für das Buch „Fußball im Norden“ anlässlich des 100. Geburtstags des Norddeutschen Fußballverbandes aufgeschrieben haben

Hoch politische Verbands-Äußerungen kommentieren Jankowski/Pistorius/Prüß in dem Buch zum 100. Jubiläum des Norddeutschen Fußballverbands zumindest dezent kritisch

von René Martens

Vor rund hundert Jahren war Fußball noch in vielerlei Hinsicht eine abenteuerliche Angelegenheit, und das galt erst recht für jene Matches, die heute als großer Fußball verkauft werden: die Länderspiele. Das zeigt ein Bericht des Hamburger Stürmers Etje Garrn, der einer der ersten Kicker des Landes war, der sich rühmen durfte, in die deutsche Fußballnationalelf berufen worden zu sein.

An einem Freitagnachmittag im Juni 1908 fuhr Garrn, der bürgerlich Hermann Ehlers hieß und für den SC Victoria auflief, nach Wien, wo zwei Tage später das gerade mal erst dritte Länderspiel der DFB-Geschichte stattfinden sollte. Vor Beginn der Reise staunte er erst einmal über die ihm übermittelte Mannschaftsliste: „Von dem mir namhaften gemachten Spielführer Hiller (Pforzheim) hatte ich noch niemals ein Wort gehört.“ Nach einem heute umständlich anmutenden Trip – von Hamburg nach Wien über Berlin und Prag – dann erneut Verwunderung, weil noch nicht alle Spieler aufgetaucht waren: „Der Elfte und Letzte war Weymar, der sage und schreibe eine Stunde vor Beginn des Spiels in Wien eintraf. Ersatzleute? Nein, so etwas konnte sich der DFB aus Gründen der Sparsamkeit nicht erlauben. Wenn also Weymars Zug Verspätung gehabt hätte, dann wäre Deutschlands Länderelf nur mit zehn Mann zur Stelle gewesen.“ Weymar, Vorname: Hans, war, obwohl ebenfalls Victorianer, mit einem anderen Zug gefahren, vermutlich, weil ihn sein Arbeitgeber nicht früher hatte gehen lassen – dafür spricht, dass Garrns erste Sorge nach der Berufung war, wie sich wohl „mein Lehrchef dazu stellt“.

Viele solcher Anekdoten haben die Autoren Bernd Jankowski, Harald Pistorius und Jens-Reimer Prüß für das Buch „Fußball im Norden“ zusammengetragen, das jetzt anlässlich des 100. Geburtstags des Norddeutschen Fußballverbandes (NFV) erschienen ist. Victoria Hamburg, der kürzlich in die 5. Liga abgerutschte Verein Garrns und Weymars, spielte in der Frühgeschichte des Verbands eine dominante Rolle: 1906 und 1907 holte „Vicky“ die ersten beiden offiziellen norddeutschen Meistertitel – im Endspiel jeweils gegen Eintracht Braunschweig (5:2 und 6:1). Zudem verfügte der Klub aus dem Stadtteil Hoheluft als einer der Ersten über eine Spielstätte, die es verdiente, Stadion genannt zu werden. Es existiert noch heute – und gerät zumindest jährlich auf regionaler Ebene in den Blickpunkt, weil hier traditionsgemäß, und trotz mieser Rasenbeschaffenheit, das Finale im Hamburger Oddset-Pokal stattfindet.

Die Institution NFV ist heute in der Öffentlichkeit kaum präsent, anders als beispielsweise in der Zeit zwischen 1945 und 1963. Die fünfgleisige Oberliga war die höchste Spielklasse, und den Spielbetrieb in den jeweiligen Staffeln regelten die jeweiligen Regionalverbände. Aus dieser Zeit stammt eine andere Jubiläumsschrift des Verbandes: Sie erschien 1955 zum 50-jährigen Jubiläum des NFV. Es ist ein obskures, teilweise auch abstoßendes Dokument, aber zumindest all jene Nerds, die diese alte Schwarte im Schrank stehen haben, können anhand eines Vergleichs mit der aktuellen Chronik verfolgen, wie sich der Fußball und seine Verbände ideologiegeschichtlich entwickelt haben. 1955 schrieb der damalige Vorsitzende Günther Riebow: „Eine frühere Zeit hat den Körper allzu gering geachtet. Als Gegenmittel gegen diese als ungesund und unrichtig empfundene Auffassung ist der moderne Sport entstanden. Aber auch heute noch gibt es Kreise, die diese missachtende Auffassuung vom Leibe haben.“ Eine der „Folgen“, so Riebow, sei „die Gefahr der Verkümmerung großer Teile unserer Jugend an Leib und Seele“. Außerdem fanden es, obwohl der Zweite Weltkrieg gerade erst zehn Jahre vorüber war, die damaligen Jubiläumsbuchautoren schon wieder statthaft, den Ersten Weltkrieg melancholisch zu verklären: „Unsere Jugend zog in den Krieg“ war eine Passage überschrieben, und über ein Spiel zwischen Norddeutschland und Berlin 1914 im Victoria-Stadion hieß es: „1.800 Zuschauer brachten eine Auffrischung der Finanzen; ein Teil floss der Kriegshilfe zu. Die Feldgrauen an allen Fronten drückten ihre Freude aus, dass von nicht Wehrfähigen in der Heimat versucht wurde, in ihrem Sinne weiterzuarbeiten.“ Ideologisch und rhetorisch unterschied sich das kaum von dem, was NFV-Funktionäre vor dem Ersten Weltkrieg oder während des Nationalsozialismus verbreitet hatten.

Hoch politische Verbands-Äußerungen solcher Art – die ihre Urheber freilich gern als unpolitisch verkauften – kommentieren Jankowski/Pistorius/Prüß in dem neuen Buch zumindest dezent kritisch, manchmal auch süffisant. Aber natürlich liefern die drei Journalisten auch, was der gewöhnliche Fußballverrückte von so einem Band erwartet: Statistiken und andere Listen, die allen, die nicht fußball-verrückt sind, ziemlich verrückt anmuten. Die „Rangliste der erfolgreichsten norddeutschen Vereine im Vereinspokal-Wettbewerb des DFB“ zum Beispiel. Um in diese Auflistung aufgenommen zu werden, musste man mindestens einmal das Achtelfinale erreicht haben. Die Fans des FC St. Pauli finden hier das gefühlte ewige Pokal-Versagen ihres Klubs auch statistisch bestätigt. Der belegt nämlich einen deprimierenden siebten Platz, muss also mit einer noch schlechteren Pokalgeschichte leben als Holstein Kiel (Platz sechs). Trösten können sich die Braun-Weißen aber damit, dass der VfL Wolfsburg nur der achtbeste norddeutsche Klub in der Geschichte des DFB-Pokals ist, und die glorreichen Sportfreunde Lebenstedt in dieser Liste den 21. Rang belegen.

Rund 20 Seiten des Buchs nimmt eine Art Lexikon ein, in dem das Autorentrio die „Fußball-Größen ihrer Zeit“, jeweils nach Epochen geordnet, würdigt. Die besten Texte sind die, bei denen man sich ertappt fühlt, weil man von dem Star, den man früher natürlich nicht so genannt hat, noch nie etwas gehört hat. Kennt da draußen zum Beispiel noch jemand Horst Engel, Jahrgang 1943? Okay, der ist immerhin Rekordspieler der Regionalliga Nord, zwischen 1963 und 1974 die höchste Spielklasse im NFV-Gebiet und der zweithöchste bundesweit; 323-mal ist er in dieser Spielklasse aufgelaufen. Aber vielleicht ist er in Vergessenheit geraten, weil er für Barmbek/Uhlenhorst gespielt hat, ein Verein, dessen Ruhm sich seit knapp 30 Jahren in Grenzen hält. Reizvoll auch jene Texte, die routiniert faktenreich beginnen, dann aber ins Nebulöse umkippen. Über den 1998 verstorbenen Walter Rodekamp von Hannover 96 erfahren wir beispielsweise: „Mit 32 Toren in der Regionallga wurde er zum Star. 1965 brachte er es auf drei Länderspiele und in 123 Bundesliga-Spielen auf 38 Tore. Später verließ ihn das Glück, er starb verarmt und vergessen in seiner Heimatstadt Hagen.“ Das lädt ein, darüber zu spekulieren und vielleicht sogar nachzuforschen, ob Rodekamps Lebensgeschichte von diesen Abstürzen erzählt, die so typisch sind für viele berühmte oder auch nur halb berühmte Fußballer der 50er-, 60er- und 70er-Jahre: Lief ihm die Frau davon? Hatte er Schulden? War er Alkoholiker?

Wer vor 40 oder noch mehr Jahren im Norden eine „Fußball-Größe“ war, der spielte natürlich auch in der norddeutschen Auswahl. Das Interesse an deren Spielen sank nach Einführung der Bundesliga rapide: 1960 wollten beispielsweise noch 45.000 Menschen in Hannover Norddeutschland gegen die Auswahl des westdeutschen Verbandes sehen, und nachdem ab 1964 der Norden dann ohnehin nur noch gegen Jütland angetreten war (was einmal weniger als 1.000 Zuschauer anlockte, manchmal nur wenig mehr), machte man dem Spuk 1973 ein Ende. Man liest so etwas mit gemischten Gefühlen: Ist der Wegfall solcher Spiele ein Verlust der Vielfalt des Fußballs zugunsten des Big Business oder ist die Idee, dass Spieler allein aufgrund ihrer temporären Zugehörigkeit zu einem norddeutschen Verein in einer Auswahl des NFV auflaufen sollen, nicht eher albern? Gäbe es noch Kicker, die darin irgendeinen Reiz sehen?

Immer wieder animieren Passagen des Buchs dazu, über den Zustand des Fußballs von heute nachzudenken: Ein kurzer Text erinnert daran, dass Ex-Werder-Manager Willi Lemke, die Qualle von der Weser, 1989 einmal ein potenziell langweiliges Bundesligaspiel (gegen Waldhof Mannheim) an einen Autohersteller verkaufte, der für sehr niedrige Eintrittspreise sorgte und die Zuschauer während des Spiels dafür mit Werbung bis zum Abwinken terrorisieren durfte. Das muss man damals natürlich als skandalös empfunden haben. Aber heute, da die meisten Bundesligaklubs schon ihre Stadionnamen verhökert haben, wirkt eine Aktion wie die Lemkes vergleichsweise niedlich.

Jankowski / Pistorius / Prüß: „Fußball im Norden. 100 Jahre Norddeutscher Fußball-Verband“, 404 Seiten, 29.80 Euro