: Wege zum Widerstand
Ein Nachmittag bei einer Fischersfrau
von GABRIELE GOETTLE
Gisela Köthke, Fischersfrau a. D., Mitglied d. BI Umwelt- u. Naturschutz (12 Jahre Vorsitzende d. BUND-Kreisgruppe Lüchow-Dannenberg), Vorsitzende d. Turnvereins Gorleben. Einschulung 1931 in d. Dorfschule Retzin/Brandenburg, 1943 Abitur am Lyzeum in Perleberg. Bis 1945 Reichsarbeitsdienst, Flucht, nach der Enteignung des elterlichen Gutsbesitzes Arbeit i. d. Landwirtschaft, u. a. bei Salzwedel i. d. Altmark, 1946 geheiratet (einen Fischer). Aufbau eines Fischereibetriebs in Gorleben. 1947 Geburt des Sohnes (der heute Fischereimeister ist u. diesen Betrieb leitet). Seither Fischersfrau mit allen Problemen (Elbe als Grenze-Elbe, ihre zunehmende Verschmutzung usw.) u. mit allen Freuden gemeinsamen Aufbauens, von 0 an u. mit „eigener Hände Arbeit“. Seit vielen Jahrzehnten aktiv im Umwelt- und Naturschutz und Teilnahme an Widerstandsbewegung gegen WAA, Endlager u. d. Castortransporte. Sie widmet sich d. Dorfarbeit m. Kindern u. Jugendlichen u. veranstaltet Gartenseminare (Volkshochschule). Für ihr Engagement im Umwelt- u. Naturschutz bekam sie d. Konrad-Buchwald-Plakette vom BUND-Landesverband überreicht, 1994 erhielt sie den Umweltpreis d. Landes Niedersachsen. Gisela Köthke, geborene zu Putlitz, kam 1924 in Stettin zur Welt. Ihr Vater (Spross der Familie Gans, edle Herren zu Putlitz) war Dipl.-Landwirt u. bewirtschaftete sein Gut in Retzin bis 1945, die Mutter wurde nach der Enteignung Krankenschwester und machte mit 54 Jahren Staatsexamen. Frau Köthke ist verwitwet und hat einen Sohn.
An einem sommerlich warmen Nachmittag sind wir mit Frau Köthke verabredet. „Sie fahren die Hauptstraße bis zum Ende des Dorfes, dann sehen Sie schon auf der rechten Seite unser Schild“, sagte sie am Telefon. Das Schild ist aus Holz und zeigt an, dass hier geräucherte Fische zu bekommen sind. Zu jeder Tageszeit kann man ausgezeichnete geräucherte Aale, Forellen und Saiblinge kaufen, gefangen bzw. veredelt vom Fischereibetrieb Köthke. Das Betriebsgelände wirkt teils gartenartig, mit Rosenhecken und Blumeninseln aus Mohn, Rittersporn, Margeriten, Feuerlilien, teils gewerblich. Aus einem der Fischbecken erhebt sich eine Fontäne und sorgt plätschernd für Sauerstoff im Wasser. Zwischen alten Kiefern liegen zerstreut mehrere Wohn- und Betriebsgebäude. Im hinteren Teil des Grundstücks, das direkt an einen kleinen Bootshafen grenzt, wohnt der Sohn mit seiner Familie. Frau Köthke bewohnt ein schlichtes einstöckiges Holzhaus, vorn zur Straße hin gelegen.
Wir werden freundlich hineingebeten. Im Flur hängen gut gemalte Aquarelle unserer Gastgeberin, Elblandschaften, Fluss- und Uferansichten. Das Wohnzimmer wirkt bürgerlich und friedlich, mit alter Standuhr und zierlichem Kachelofen mit Gusseisenaufsatz. Das Holz eines deckenhohen, mit Intarsien und Messingbeschlägen verzierten Schrankes, schimmert im Nachmittagslicht. An der Wand hängt als großes Gemälde das Bildnis eines streng blickenden älteren Herrn mit Perücke und dunklem militärischem Brustpanzer. Ein kleineres Ölbildchen zeigt einen Lehrer, der drei Knaben unterrichtet, die Kinder der Königin Luise. In einem Weidenkorb neben dem Fernsehgerät liegen mehrere großformatige Bücher, obenauf die neue Ausgabe der „Ansichten der Kordilleren“ von Alexander von Humboldt. „Das sind Geburtstagsgeschenke, Bücher, die man nicht im Bett lesen kann“, sagt Frau Köthke, schenkt uns Kaffee ein und beginnt zu erzählen:
Ich bin ja jetzt seit 60 Jahren hier, beinahe. Die Familie meines Mannes, er ist 1987 gestorben, hatte ihren Elbfischereibetrieb von 1822 bis 1945 gleich hier über die Elbe, am Elbdeich drüben. Bis der Grenzzaun kam damals, konnten wir das Haus sehen. Sie haben eines Nachts ein paar Schafe im Kahn angebunden, die Netze mitgenommen und sind hierher über die Elbe. Und diese Möbel, die haben wir später über den Fluss gebracht, in der Nacht, in der die Russen die Bewachung an die Volkspolizei übergeben haben. Das sind Stücke aus der Familie meines Mannes, während die Bilder aus meiner Familie stammen. Geheiratet habe ich dann 1946. Zuerst hatte ich mich in die Elbe verliebt, dann in meinen Mann, sage ich immer. Aber es war natürlich etwas schwierig, wir alle waren Flüchtlinge, man hatte uns hier eingewiesen, hier wohnten meine Schwiegereltern, meine Schwägerin, ein Schwager mit Kindern, irgendwann kamen auch noch meine Geschwister vorübergehend. Das hat sich alles hier abgespielt. Das war ja ein Reichsarbeitsdienstlager, das ganze Gelände, und dieses Haus hier war die Führerwohnung. Es war ein „Reichseigentum“ noch, nachher hatten wir die Möglichkeit, es zu kaufen. Nach und nach kauften wir auch das Grundstück. Es besteht eigentlich nur aus Flugsand, es ist eine Sanddüne. Und dann hat sich eben alles so ergeben, der gemeinsame Aufbau, und wir hatten ja einen enormen Vorteil dadurch, dass die Köthkes schon über 100 Jahre Pächter mehrerer Gewässer bei den Grafen von Bernstorff sind. Also die Fischereirechte auf dieser Seite hatten sie auch vorher schon, so hatten wir eine Existenzgrundlage. Und der gemeinsame Aufbau, der war zwar schwer, aber schön. Mein Mann war technisch sehr begabt. Er hat mit 18 schon eine Fangtechnik patentiert bekommen, die heute noch auf allen großen Flüssen verwendet wird, das nennt sich ‚köthkescher Scherbrettrahmen‘, und diese Vorrichtung erleichtert den Aalfang. Der Aal war sozusagen die Spezialität meines Mannes. Aal war das Wichtigste. Der ging nach Hamburg in die Räuchereien. Oder auch nach Steinhude, die kauften sehr viel Aal bei uns. Heute könnte man, wenn man nicht selber veredelt und verkauft, gar nicht mehr davon leben. Damals schon. Über Nacht wurden die Netze gestellt und morgens wurde der Fang rausgenommen und alles an Land gebracht. Ich war eben hauptsächlich mit draußen und habe in der Fischerei mitgearbeitet, habe eigentlich alles gemacht, Netz rausziehen, töten natürlich, schlachten und ausnehmen. Aber das war später, anfangs wurden die Aale ja lebend im Wasser weitertransportiert, die anderen Fische, die wurden erst mal geschlagen, aufgeschnitten, ausgenommen. Es ging vorwärts, wir konnten was tun, das war das Schöne.
Aber es gab dann auch schon bald Probleme mit der Grenze und mit der zunehmenden Verschmutzung der Elbe. Als junge Frau bin ich noch in der Elbe geschwommen. Da war das Wasser sauber. In den Kriegsjahren dann wurde die Elbe schon als Industrieabwasser genutzt, aber ihre Selbstreinigungskraft reichte noch. Das war später dann nicht mehr der Fall, die Verschmutzung hat so zugenommen, dass viele der Fischereibetriebe das nicht überlebt haben, und wenn wir nicht vermehrt Handel gemacht hätten mit Forellen, mit Saiblingen, dann hätten wir auch nicht überlebt. Die Teiche, die Sie hinten gesehen haben, die wurden damals mit öffentlichen Zuschüssen ausgelegt, das sind so genannte Hälterteiche, in die man diese verdreckten, schlecht schmeckenden Aale brachte. Unsere Kunden hatten uns Schwierigkeiten gemacht, unsere Abnehmer in Steinhude – denn schließlich kamen viele dieser Steinhuder Aale aus der Elbe – und da sagte man uns, tut uns Leid, die schmecken nicht mehr, die stinken aus dem Pott, nach Phenol, Petroleum … und da haben wir sie dann hier nach langen Versuchen dazu gebracht, die Aale, dass sie fressen, denn sie fressen an sich in Gefangenschaft nicht, und die Reinigung geht ja nicht nur von außen. Das haben wir also geschafft, als Erste in Deutschland, und so konnten wir trotz der widrigen Bedingungen überleben. Also das ist schon sehr deutlich geworden, wie wichtig ein vernünftiger Umgang mit der Natur ist. Ich bin ja auch – seit der Gründung des BUND eigentlich – hier im Landkreis im Vorstand, war zwölf Jahre Vorsitzende usw. Der BUND wurde 1975 von Horst Stern und Bernhard Grzimek gegründet; er ist also etwas älter als der Gorleben Widerstand. Energiepolitik war ja von Anfang an auch ein Hauptthema, und ab 1980 war dann ein Hauptthema auch Anti-Atom-Arbeit. Wir haben hier eigentlich eine gute Arbeitsteilung, wir machen Naturschutz, und die BI macht ganz kompetent ihre Anti-Atom-Arbeit, organisiert den Widerstand. Wir haben hier vom BUND z. B. seit Jahren ein Projekt, das heißt ‚Kräuterheu- und Wiesenschutz‘. Da geht es darum, zusammen mit Landwirten – und nicht gegen sie, wie es sonst oft nötig ist – dieses besondere Wiesenheu zu ernten, und wir sorgen dann für den Verkauf. 40 Landwirte sind da beteiligt, im Südkreis, wo es noch wunderbare klein strukturierte Wiesenlandschaften gibt, blütenreiche Wiesen, wunderschön.
Das Heu geht z. B. an den Zoo Hannover, für bestimmte Tiere. Es ist sehr beliebt bei Pferdebesitzern, es geht bis in die Schweiz. Und wir verlangen einen 30 Prozent höheren Preis, das ist es auch wert. Und zugleich dient die Sache der Artenvielfalt, denn es wird zum ökologisch richtigen Zeitpunkt gemäht. Normalerweise ist es so, dass in der Landwirtschaft kaum noch Heu gemacht wird, sondern nur noch Silage, und da fängt man im Mai an zu mähen. Früher wurde im Juni gemäht. Beim Mähen im Mai, da kommt keine Artenvielfalt mehr hoch, die Mähmaschinen zerstören die Gelege und Nester. Deshalb brüten die Grünlandvögel kaum noch hier im Elbbereich, die Brachvögel, die Kiebitze, die Uferschnepfe. Ich finde, das ist eine Verarmung der Elblandschaft, dass diese typischen Rufe nicht mehr zu hören sind. Es herrscht dieser stumme Frühling, den es früher nicht gab.
Ein anderes Projekt ist ein Flüsschen, die Dumme, die begradigt wurde und für deren Renaturierung wir uns eingesetzt haben. Also dieser Graben soll wieder mäandern. Und dann geht es natürlich immer um den drohenden Ausbau der Elbe, der immer noch in der Luft liegt, obwohl längst klar ist, dass der zugrunde gelegte Güterverkehr auf dieser Wasserstraße gar nicht stattfindet. Aber was die Bürokratie einmal beschließt… Ausbau heißt z. B., dass man das Flussbett vertieft, noch mehr Bunen baut, den Fluss schottert, ihn immer mehr einengt, damit es mehr Strömung gibt usw. Und wir vom Naturschutz wollen natürlich, dass man die Dynamik dieses weitgehend noch natürlichen Flusses erhält. Dass unser Landkreis hier so ein Juwel ist, und auch der Fluss vergleichsweise, das ist zum großen Teil entstanden durch die Grenznähe. Wenn die DDR nicht gewesen wäre, da bin ich sicher, hätten wir hier Staustufen an der Elbe wie an allen anderen großen Flüssen. Es gibt nur eine, bei Geesthacht. Der Main z. B. hat 27, für die Aalwanderung ist das ein großes Problem trotz Aufstiegshilfen, sie kommen nicht mehr die Flüsse herauf so wie früher. Von den Turbinen der Wasserkraftwerke ganz zu schweigen, in denen große Mengen der abwandernden Aale zerstückelt werden, also das haben wir hier alles nicht, zum Glück. Das ist mein Schwerpunkt, ansonsten stehe ich natürlich voll hinter dem Widerstand, habe Demos mitgemacht, Unterschriftenlisten wurden gesammelt, Anzeigen gemacht, Brot geschmiert usw., das ist ja klar!“
Wir fragen nach ihrer politischen Orientierung in den 70er-Jahren. „Na, konservativ. Ich will mal so sagen, ich war schon eher auf CDU-Linie. Wegen Gorleben bin ich dann auch ausgetreten aus der Partei später. Ich weiß noch genau, wie es anfing: Es war am 22. Februar 1977, einem milden Tag, ich habe hier gehackt im Garten, und da hörte ich es, mittags. Es kam durchs Radio und Fernsehen, dass hier in Gorleben ein gigantisches Atomzentrum entstehen soll, ein nukleares Entsorgungszentrum, mit WAA und allem bis hin zum Endlager. Da habe ich meine Hacke hingelegt, und die hat nach vier Wochen immer noch so dagelegen. Es war eine andere Zeit angebrochen! Zunächst ist ja die Gemeinde dagegen gewesen, aber diese Geschichte ist ja auch eine Bestechungsgeschichte, es ging um sehr viel Geld, das man den Kommunen bot. Das Argument hier war, wenn wir’s nicht machen, nimmt es die Nachbargemeinde, und wir haben dann keinerlei Vorteil, aber den gleichen Nachteil. Ich bin ja 15 Jahre ungefähr im Gemeinderat gewesen, kenne das von innen. Dr. Neuschulz, ein Mann aus dem Naturschutz, und ich, wir waren immer die andere Seite. Also bei neun Ratsmitgliedern waren das immer sieben gegen zwei! Das ist natürlich deprimierend, jahrelang solche Abstimmungen zu ertragen. Nach der Abstimmung zur ‚Konditionierungsanlage‘, die natürlich pro war, sind Dr. Neuschulz und ich aus Protest rausgegangen aus dem Rat – mein Sohn war damals bei mir Nachrücker, sonst wäre das ja nicht gegangen – na ja, sie ist selbstverständlich gebaut worden, steht heute da und wird nicht benutzt. Die Auseinandersetzungen haben natürlich das Dorf gespalten, von Anfang an, das ging quer durch die Familien. Bei uns allerdings nicht, wir waren und sind alle dagegen.
Aber sonst, ich bin ja seit 35 Jahren Vorsitzende einer Frauengymnastikgruppe, eines kleinen, dörflichen Vereins, wir treffen uns jeden Montag von 19 bis 20 Uhr, machen Gymnastik, und danach gehen wir in die Kneipe, essen ein bisschen und klönen. Und das ist ein sehr wichtiger Abend für uns Frauen – die wir übrigens mal den TuS-Gorleben, also den Gesamtsportverein, gegründet haben, in dem jetzt die Männer sich breit machen. Wir haben damals darauf gedrungen, das Politische aus dem Verein rauszuhalten, denn so ein Dorf muss ja auch noch eine Gemeinschaftsbasis haben, bei allen Meinungsverschiedenheiten. Die muss man eben aushalten. So dachten wir.
Bis dann der Vorsitzende der Fußballabteilung – hinter dem Rücken seiner eigenen Leute – einen Werbevertrag für Trikotwerbung mit den Atomleuten machte … pro Atom! Die Hälfte seiner Fußballer ist dann ausgetreten, die gingen in einen Nachbarverein. Der Werbevertrag hat ja Geld eingebracht, und damit hat der Vorsitzende Wittenberger Spieler eingekauft – es war ja alles in der Wendezeit – und damit den Wittenberger Verein auch kaputt gemacht. Denen haben sie auch noch berufliche Möglichkeiten versprochen, die sind dann nachher als Wachmänner hier gelandet. Na ja … Da laufen die alle heute noch rum mit der Werbung, ich glaube, es steht TuS-Gorleben drauf, in blauer Schrift auf weißem Trikot, und dann das Kürzel BLG, also Brennelemente-Lager-Gesellschaft.
Und nun war die Frage, was machen wir? Ich konnte ja erst mal nur für mich sprechen, und ich habe gesagt, ich bin die Vorsitzende vom BUND hier im Landkreis, und ich bin Gegnerin dieser Atompolitik, ich kann und will nicht in einem Verein bleiben, der mit solchen Trikots in Erscheinung tritt! Und ich muss sagen, obwohl das durchaus in unserem Turnverein auch Frauen waren, deren Männer pro sind, haben sich nach der Sitzung 33 Frauen entschieden, mit mir zusammen aus dem TuS-Gorleben auszutreten. Das war eine kleine Sensation damals. Wir haben dann den Turnverein Gorleben gegründet, also das sollte nicht ein Anti-Atom-Verein sein, überhaupt nicht, wir waren weiterhin verschiedener Meinung – fertig! Es gibt ihn immer noch, unseren kleinen Turnverein, wir sind noch ungefähr 30. Es hat sich alles etwas abgemildert inzwischen, heute sind eigentlich, von der Einstellung her, alle Anti-Atom. Und die Kinder von denen, die dafür waren – also jetzt generell –, die haben ihre eigenen Ansichten, die gehen heute auf die Demo. Wir sind eben hier im Landkreis zwangsläufig etwas anders. Ich vergesse das immer. Wenn man mal außerhalb irgendwo ist, dann sagen die Leute oft mitfühlend: ‚Ach, Sie kommen aus Gorleben, da haben Sie ja immer diese Demonstrationen. Ist das nicht schrecklich?‘ Und sie sind dann sehr irritiert, wenn ich mit meinen 80 Jahren sage: ‚Im Gegenteil, ich bin dabei! Worunter wir leiden, das ist die Politik.‘ Den Leuten wird durch die Medien diese ‚Idealvorstellung‘ vermittelt, hierher kämen ganz viele gewalttätige Demonstranten und die Polizei schützt uns vor denen. Es ist natürlich ganz anders. Dass der Castor geschützt wird und ausschließlich, das nehmen die nicht so wahr.
Ich würde die Leute gern mal einladen. Die Castor-Transporte gehen ja hier genau vor meinem Haus vorbei, die Dorfstraße entlang, ich kann durchs Fenster alles beobachten. Das geht ja schon die Nacht vorher los, es ist ein absoluter Ausnahmezustand, dem wir unterworfen werden. Angekündigt wird es in der Zeitung, z. B. im Amtsblatt. Unsere Rechte werden außer Kraft gesetzt, der Regierungspräsident hatte ja die letzten Jahre z. B. immer einen 50-Meter-Bereich rechts und links der Straße verfügt, der nicht betreten werden durfte in der Zeit. Bedenken Sie mal, auf unserem eigenen Grundstück! Das nennt sich „demonstrationsfreier Raum“, und dann gibt’s noch diverse Versammlungsverbote, ein Verbot, Leute zu bewirten, unterzubringen usw., man hat sie gar nicht im Kopf, die ganzen Vorschriften. Wozu auch? Also die Castoren, die werden ja in Dannenberg vom Zug auf Tieflader umgeladen, es sind immer sechs, oder sind’s jetzt sogar zwölf? Jedenfalls kommt ja zu allem auch noch dieser logistische Schwachsinn hinzu, dass man das alles hier so über die Dörfer transportiert statt, wenn schon, auf Gleisen direkt in die Halle. Und für die Wegstrecke, da gibt es zwei Möglichkeiten, die werden abwechselnd gewählt, um die Demonstranten zu zersplittern. Also entweder sie fahren die Hauptstraße entlang, oder sie fahren einen Umweg an der Elbe entlang über Langendorf hierher. Aber im Zeitalter des Handys ist das für den Widerstand kein Problem mehr, es finden auf der ganzen Strecke Protestaktionen statt, da machen alle so weit mit, die Bauern, die Anlieger usw. Es wurden ja auch schon Straßen untertunnelt, es fällt den jungen Leuten viel ein. Dann schiebt sich natürlich eine Riesenvorhut vor den Castor, Wasserwerfer, Motorräder, grüne Minnas, Hubschrauber kreisen im Tiefflug herum …“ Sie holt Fotos vom Castor-Transport. „Da ist er drunter, der Castor, unter einer blauen Plane, die Fotos sind hier vom Haus aus gemacht. Das war früher, da hatten wir ja noch schönes Wetter, da war’s ja immer im Sommer. Im Frühjahr, bzw. im Sommer, da kamen natürlich immer viele Demonstranten. Man hat die Transporte dann aus taktischen Gründen auf den November gelegt. Und nun raten Sie, zu welcher Uhrzeit sie hier durchkommen? Morgens um vier! Wenn sich dann die Vorhut hier vorbeischiebt, dann schwimmt das ganze Dorf in Blaulicht. Unheimlich wirkt das. Und der Transport bewegt sich im Schritttempo, die Polizei muss ja an der Seite mitgehen. Das Ganze hat die Geschwindigkeit eines Leichenzuges … ja, damit kann man es vergleichen.
Wir haben hier immer nebenan, da, wo unser Grundstück zu Ende ist, in genau gemessenem Abstand von der verbotenen Zone, da haben wir so ein Lager, mit Infozentrum und allem, da ist auch das Essen, es gibt Getränke. Viele hier vom Dorf helfen mit, die Bauern schmieren Brote, andere bringen Suppe usw. Da laufen dann die Meldungen zusammen. Es klingelt unser Handy und jemand sagt etwa: ‚Wir sind hier eingeschlossen, könnt ihr uns was zu essen bringen?‘ So läuft das. Und wenn alles vorbei war, sich alles aufgelöst hat, dann habe ich hier so einen großen Topf Suppe gekocht, es sind dann immer ganz viele, auch ganz fremde Leute im Haus, alle sind müde, hungrig, und empört natürlich. Na ja, aber ich muss ehrlich sagen, dass ich jetzt nicht mehr so viel mitorganisiere wie früher. Es ist ja immerhin jetzt schon die dritte Generation, die hier demonstriert, und das ist eigentlich ganz toll, muss ich sagen.“
Wir bitten unsere Gastgeberin, noch ein wenig über ihre Herkunft zu erzählen. Etwas zögernd sagt sie: „Na ja, ich komme aus Retzin, einem Dorf zwischen Perleberg und Pritzwalk in der Mark Brandenburg. Wir sind ja enteignet, und dann sind wir geflüchtet mit dem Treck …“ Wir fragen, wie groß das Gut war. „1.800 Morgen, also ein Hektar hat vier Morgen, ich kann immer nur in Morgen. Leichte Böden, Kartoffeln, Viehwirtschaft usw. Wir mussten ja nicht in dem Sinne mitarbeiten, aber wir Kinder haben alles auch mitgemacht, damit man weiß, wie es geht, das hat uns ja auch sehr geholfen im späteren Leben. Also das alles mussten wir zurücklassen. Heute ist dort übrigens eine Enthospitalisierungseinrichtung für geistig behinderte Erwachsene. Na ja, damals also sind meine Eltern zunächst noch dort geblieben, wir waren ja nicht gleich enteignet. Mein Vater ist dann mit meiner Großmutter aus Pommern und meiner Schwester, die verletzt war, mit dem Auto weggefahren. Und meine Mutter, ich sag mal, meine Heldenmutter, die ist auf dem Schloss geblieben. Wir hatten ja eine ganze Menge natürlich auch Fremdarbeiter …“ „Zwangsarbeiter?“, werfe ich ein. „Ja, ukrainische Arbeiter, auch Frauen. Meine Mutter hat sich aber eigentlich immer sehr um die gekümmert, vor allen Dingen, wenn sie krank waren. Meine Mutter blieb dort, bis die Russen kamen. Wir hingegen waren in der Altmark bei Salzwedel und haben bei einer Tante gewohnt. Und da haben wir dann erst mal ein Fuhrgeschäft gegründet, meine Cousine und ich, mit unserem Treckwagen und den zwei Pferden. Von Apenburg nach Salzwedel sind wir gefahren. Das wurde immer ausgeklingelt: Dann und dann fahren die Damen zu Putlitz nach Salzwedel. Und die Fahrgäste kamen dann mit ihrem Stubenstuhl, setzten sich auf unseren Planwagen. Das war der Personentransport. Dann war es ja damals so, dass alle Lebensmittel zugeteilt waren, und an die einzelnen Geschäfte in den Orten mussten wir diese Zuteilungen dann liefern. Es war eigentlich sehr schön, solange die Engländer und Amerikaner in der Altmark waren. Aber dann kamen die Russen, und es war aus mit unserem Unternehmertum. Dann mussten wir wieder in der Landwirtschaft arbeiten. Der Krieg hat alles verändert, unser ganzes Leben.“
Wir fragen nach der politischen Haltung der Eltern. „Na, auf Distanz waren die natürlich, und nach dem 20. Juli hat Goebbels ja gesagt, das sind die Nächsten, die drankommen, also der Adel. Ich selbst allerdings bin durchaus in der Hitlerjugend gewesen und bin auch sehr gerne im Arbeitsdienst gewesen – das darf man ja heute nicht sagen, aber ich stehe dazu! Bis auf den ersten Vorsitzenden war das ja eine tolle Frauenorganisation, der weibliche Arbeitsdienst. Und es war ja keine Erfindung des Dritten Reiches, sondern stammte noch von den Brüning’schen Notverordnungen her, und einige waren noch aus dieser Zeit dabei. Es gab dann ja auch viele arbeitslose Sozialarbeiterinnen, Krankenschwestern, Lehrerinnen usw., und deshalb war der Geist ein guter. Und auch so vom Kulturellen und von der Musik her z. B. waren das ganz tolle Frauen zum Teil. Ich muss es immer wieder so sagen, ich war gerne im Reichsarbeitsdienst, weil ich es so empfunden habe.“
Wir fragen, ob die Eltern Kontakte zu Juden hatten. „Nein, eigentlich nicht. Aber das war normal bei uns im Landkreis, in Perleberg, glaub ich, gab es nur einen Juden, der bekannt war … Das war ja nicht wie in Berlin.“ (Nach Auskunft von G. Radegast vom Prignitzer Heimatverein gab es sowohl in der „Reichskristallnacht“ Ausschreitungen gegen die Juden in der Prignitz als auch Deportationen der Perleberger Juden in die Vernichtungslager. Anm. G. G.) „Wir selber hatten keine Judenfreunde und haben deswegen das eigentlich auch nicht in dem Sinne erlebt. Ich meine, dass man, als alles ans Tageslicht kam, natürlich total entsetzt war, ist ja selbstverständlich. Also über Konzentrationslager oder so, da wurde zwar immer was gemunkelt, aber kein Mensch wusste die Wahrheit. Wir jedenfalls nicht. Ich denke auch oft, dass unsere Eltern nicht mehr mit uns darüber gesprochen haben, nachher, das ist schade. Heute hätte man wahrscheinlich ein intensives Gespräch mit seinen Eltern gehabt.“
Wir alle schweigen einen Moment, der strenge Herr aus einer anderen Zeit blickt von der Wand, ich frage, ob das ein Vorfahr ist. „Ja, ein Ururururgroßvater, General von Winterfeld. Er hat 1730, als Freundschaftsdienst sozusagen, die Kosten für eine Enthauptung übernommen, damit man die Rechnung nicht den Eltern des Enthaupteten zustellt …“ Wir fragen, ob es sich beim Enthaupteten um Katte handelte? „Ja, ja, General von Winterfeld hat die Enthauptungs- und Beisetzungskosten für Katte beglichen, um den Eltern wenigstens diese Schmach zu ersparen… Aber ich möchte das Familiäre nicht so unbedingt hervorheben … Meine Familiengeschichte ist doch gar nicht so interessant, viel interessanter ist die Biografie der Aale. (Die Familiengeschichte der „edlen Gänse“, eines der ältesten und bedeutendsten Adelsgeschlechter seit dem 12. Jahrhundert in der Prignitz, ist kulturhistorisch sehr interessant. Anm. G. G.) „Kennen Sie die Geschichte der Aale, nein? Man muss die Biografie der Aale kennen! Sie ist etwas Großartiges, Geheimnisvolles.
Also alle Aale, die es hier in Europa gibt, in unseren Flüssen, Bächen, die sind im Golf von Mexiko geboren, in der Sargasso-See. Sie wandern dann drei Jahre lang als Aallarven mit dem Golfstrom fast 6.000 Kilometer über den Atlantik. Sie sind ganz durchsichtig, also ihrem Element angepasst. Wenn sie dann an die europäischen Küsten gelangen, sind sie etwa 7 Zentimeter lang und haben sich zum Glasaal entwickelt. Die Franzosen fangen die ja leider, das ist jetzt der große Streit, der Fischereistreit in der EU. Die Franzosen sagen, wir sollen keine großen Aale fangen, damit es wieder kleine gibt, und wir sagen, die Franzosen sollen nicht so viele kleine fangen, damit es wieder mehr große gibt. Mein Sohn ist da sehr engagiert und in Verhandlungen immerzu.“ (Frankreich fängt etwa allein an der Mündung der Loire über 100.000 Tonnen Glasaale mit Schleppnetzen, der größte Teil davon ist bereits von Japan und China geordert als Besatzfisch für die dortigen Aalfarmen. Der Bedarf in Asien ist so groß, dass zwischen 300 bis 600 Euro pro kg lebendem Glasaal bezahlt werden. Diese Profitgier gefährdet den Aal. Anm. G. G.) „Sie halten sich ein bisschen an den Küsten auf und dann pigmentiert sich der Bauch und passt sich dem Untergrund an. Sie sind noch Zwitterwesen im Wartezustand bis zu einer Größe von 25 cm, dann wandern die Weibchen, und nur die Weibchen – die Männchen bleiben in den Küstengewässern zurück – die Flüsse hinauf und verteilen sich in Nebenflüsse und Bäche bis in die letzten Gräben. Da halten sie sich etwa 12 bis 15 Jahre auf. Mein Mann erzählt, wenn er, so wie jetzt im Frühsommer, am Bunenkopf saß, war es oft so, dann konnte er manchmal ein schwarzes Band sehen, einen Meter breit, es bewegte sich dahin, und das waren alles kleine Aale. Das war früher. Ja, und da setzen sie dann Fett an und werden geschlechtsreif – weibliche Aale können bis zu 150 cm lang und 6 kg schwer werden – dann wird der Bauch silbriggrau. Und sie müssen nun aus all den Gräben, Flüssen, Bächen wieder Richtung Meer wandern. Das ist der qualitativ beste Aal und wird natürlich gern gefangen. An der Küste warten bereits die Männchen auf die Weibchen – die Männchen erreichen übrigens nur eine Länge von max. 60 cm und werden deshalb als ‚Bundaale‘ verkauft. Und gemeinsam mit den Weibchen treten sie dann die lange Rückreise über den Atlantik zum Sargasso-Meer an. Sie fressen nicht, ihre Augen haben sich vergrößert, ihr Verdauungstrakt und Magen bilden sich zurück, verkümmern. Sie leben nur noch von den Fettreserven. Man hat übrigens noch nie laichreife Aale gesehen, kein Tier hatte Rogen oder Milch im Bauch.
Das Ganze ist noch von einem Geheimnis umgeben. Man sagt, dass sie im Sargasso-Meer laichen, das warm und tief ist – und seinen Namen wegen der großen obenauf schwimmenden Teppiche aus Beerentang, dem Sargassum, erhalten hat. Angeblich laichen sie also dort in tausend Meter Tiefe und sterben dann. Warum sie überhaupt hierher kommen, ist ein Geheimnis, es gibt so eine Atlantis-Theorie dazu, manche gehen auch davon aus, dass durch die Kontinentalverschiebung vielleicht der Weg auch so weit geworden ist, man weiß es einfach nicht. Mein Mann hat sich immer sehr für die Aale interessiert. Natürlich auch beruflich, Räucheraal ist gefragt, er schmeckt sehr gut. Manche haben aber Bedenken. Günter Grass hat ja gesagt, sie fressen Leichen. Er hat uns damals das Geschäft verdorben. Aber der Aal ist ja ein Raubfisch, der frisst mitten im Wasser.
Na ja, jetzt sind uns die Aale plötzlich so dazwischengekommen, ich will abschließend aber noch was zum Endlager hier sagen und zur Atompolitik. Denn die Verantwortlichen gefährden ja sämtliches Leben, auch das des Wunderwesens Aal, das wesentlich älter ist als der Mensch. Wenn da einer sagt, er wird für eine Million Jahre garantieren, dass der Atommüll keinen Kontakt zur Biosphäre hat, dann kann man ja nur noch hohnlachen über solche Vermessenheit. Und die Merkel hat ja jetzt auch bekundet, dass sie die Laufzeiten der AKWs verlängern wird, und kein Wort vom Atommüll, der wächst, ohne dass man weiß, wohin damit! Für mich aber ist und bleibt das Hauptproblem der Betrug. Hier hat man eine politische statt einer geologischen Entscheidung getroffen für ein Endlager. Dann hat man gesagt, man ‚erkundet‘ nur, hat aber heimlich einen fix und fertig zu bewirtschaftenden Salzstock errichtet. Der ist fertig zur Nutzung, und niemand hat den Leuten erzählt damals, dass der Müll in der Castorhalle hier 30 Jahre oberirdisch stehen muss zum Abkühlen, bevor der überhaupt unter die Erde kommt. Und so ist die Bevölkerung, auch ich, in einer Weise belogen und betrogen worden, die unbeschreiblich ist. Dass hier derart mit uns umgegangen wurde und wird, das werden wir ihnen nie verzeihen!“