Für die Seele unverzichtbar?

Reinald Grebes Krisenstück „Einmeterfünfzig“ im Dresdner Staatsschauspiel huldigt der Droge Theater als Selbstparodie

Von Michael Bartsch

Sie scheinen zunächst nichts Rechtes mit sich anfangen zu können, wie sie apathisch am Proszenium sitzen und einzelne Gedankenschnipsel von sich geben. Multiinstrumentalist Dietrich Zöllner lässt sein Cello melancholisch schmachten, assistiert vom bewährten Reinald-Grebe-Partner Jens-Karsten Stoll an den elektrischen, anfangs aber gar nicht elektrisierenden Tasten. Man flüchtet in komisch wirkende Rituale wie die Essensbestellung in der Kantine.

Ist es auch Stumpfsinn, hat es doch Methode! Man begreift sie allmählich, wenn der immer wieder wie Big Brother observierend niederfahrende Lautsprecher die Verdikte der Generalkrise verkündet: Einsfuffzich Abstand genügt auf der Bühne eigentlich gar nicht, sechs Meter für exzessiv Sprechende, Verzicht auf körperliche Szenen, selber schminken, kein Gruppenduschen! Überall lauern die Aerosolwolken! Assistiert wird Big Brother von einem viel sympathischeren kleinwüchsigen König im Rollstuhl oder in einem spießigen Mini-Rollgarten. Auch mit Klaus-Dieter Werner, der merkenswerte Weisheiten von sich gibt, arbeitet Grebe oft zusammen.

Allmählich dämmert es den hygienevorschriftsgemäß im Dreisesselabstand platzierten Zuschauern im Schauspielhaus: Diese Schauspieler dürfen nicht wie sie wollen! Fast noch schlimmer als die Spiellust staut sich die unbefriedigte Eitelkeit. Noch mucken sie nicht auf, sondern klammern sich an Rituale und an die Vergangenheit. Den Ariadnefaden in der manchmal etwas labyrinthisch anmutenden Szenenfolge bildet die eine szenische Vorschau auf die kommende Spielzeit.

Wohl nur noch die Dresdner Generation Grauschleier jauchzt, wenn Ahmad Mesgarha tatsächlich in seiner strapsigen Hauptrolle der „Rocky Horror Picture Show“ von 1993 im Arenazelt aufersteht. Zur gleichen Generation zählt Anna-Katharina Muck, die mit Mesgarha ein hinreißendes Tandem von Rampennarzissten bildet. Beide vermissen den Applaus und das große Solo. Mesgarha hat es satt, ein halbes Jahr statt Theater Familienabendbrot angerichtet zu haben. Und Muck ist tief geknickt, als für ein Requisit aus ihrer Brecht-Johanna-Rolle nur 30 Euro geboten werden.

Ihnen gegenüber steht die nicht minder bühnensüchtige und auffallend musikalisch begabte Generation Schauspielstudio. Nach und nach erwachen sie gemeinsam aus der lethargischen Beschwörung des Theatermythos. Aus der Elegie wird eine Huldigung an die Droge Theater. Jetzt ist Leidenschaft spürbar, jetzt wird dem Affen und der Bühnenmaschinerie Zucker gegeben, jetzt gerät „Einmeterfünfzig“ zu der angekündigten „Theaterphantasie“. Mit Kartons, aufblasbaren Ganzkörperkondomen, einem Riesenreifrock und einem endlosen Mützenschild wird der Mindestabstand persifliert. Romeo und Julia rollen einen Pas de deux in durchsichtigen Riesenkugeln und versuchen, sich irgendwie zu küssen. Für eine Mikrosekunde wird unmittelbar vor dem Black tatsächlich geküsst, auweia, wenn das das Gesundheitsamt sieht!

Grebe wäre nicht Grebe, wenn nicht auch grübelerregende Sentenzen vorkämen. Der Mensch als der Risikofaktor generell, wegen seiner Hybris mit der Tendenz zur Selbstabschaffung, die Fantasie von einem posthumanen botanischen Theater. Und was ist systemrelevant? Sind Künste nicht per se für die Seele unverzichtbar? „Müssen wir das alles neu verhandeln?“, klagt die Inspizientin.

Der große Kleinwüchsige dankt am Ende „allen, die verzichtet haben“. Bei allem pa­rodistischen Witz klagt Reinald Grebe nicht plakativ wie viele derzeitige Hungerkünstler den Verzicht auf den Verzicht ein. Auf verspielte, mit anspruchsvollen Liedern gewürzte, nicht immer dramaturgisch stringente Weise macht er vielmehr bewusst, was wir mit unseren abendländischen Bühnen haben. Der intensive Premierenapplaus ließ darauf schließen, dass das Publikum ebenso empfindet.