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Archiv-Artikel

Abschied von der Politik

Political Studies (IV): Gut möglich, dass sich die rot-grüne Community demnächst ins allgemeine Räsonnement und in die Diffusion zurückzieht – und so einen neuen Willen zur Politik entwickelt

■ Wie immer die Neuwahlen ausgehen – auf dem weiten Feld zwischen Politik und Leben hat sich etwas verschoben. Was kann Politik, was soll sie können, was nicht? In unserer Serie „Political Studies“ überlegen AutorInnen, welche Rolle Politik in ihrem Leben spielt, ob die offizielle Politik das Politische noch repräsentiert

VON MICHAEL RUTSCHKY

Überblicke ich meine Jahre, so hat das Interesse an der Politik im emphatischen Sinn ständig nachgelassen. Klar, dass SPD und Grüne 1998 eine Koalition eingingen und Gerhard Schröder zum Bundeskanzler wählten, ließ einen triumphieren – aber der Inhalt des Triumphs blieb ein wenig unklar. Er kam so gänzlich ohne eschatologische Beimengungen aus, überschwängliche Gedanken wie: Jetzt wird alles, alles anders; jetzt beginnt ein neues Kapitel der deutschen, ja der Weltgeschichte; jetzt verfügen endlich die richtigen Leute über die Macht und werden sie lange, lange behalten. Oder so ähnlich. Man kann sich das nachlassende Interesse an der Politik im emphatischen Sinn als Schwinden solcher Heilserwartungen vorstellen.

Es machte sich ja bald bei gewissen Kadern der rot-grünen Community selber geltend: als schwere Enttäuschung. Keineswegs wurden sofort die Kernkraftwerke abgeschaltet, die Subsistenzwirtschaft eingeführt, die Entwicklungshilfe und der Benzinpreis verdreifacht – oder was Sie sich so wünschten. Kriege standen ins Haus, und der Bundesaußenminister machte unmissverständlich klar, dass dies nicht der Zeitpunkt sei, zu dem von deutschem Boden der Pazifismus als Weltreligion ausgehe.

Das hat dem Personal der rot-grünen Regierung viel Verachtung, ja Hass eingebracht. Sogar von Taxifahrern war zu hören, dass man anscheinend wieder mal die Falschen an die Macht gewählt habe. Am Ende sind doch alle Politiker korrupt, Verräter an den Idealen, die sie uns gepredigt und um derentwillen wir uns ihnen angeschlossen haben. (Die Szene mit dem Taxifahrer endete damit, dass ich auf der Stelle anzuhalten und auszusteigen wünschte.) Offensichtlich haben solche Heilserwartungen (und ihre Enttäuschung) wenig mit Politik zu tun, wie man sie sich sonst so vorstellt, Pragmatismus, das Bohren dicker Bretter mit Geduld und Augenmaß zugleich. Hier geht es nicht um langsame, widerständige Prozesse, es geht um Durchbruch, Umkehr, Plötzlichkeit, eine andere Welt. Man denkt eher an Religion, allenfalls Ästhetik statt an Politik – oder anders: Politik sollte in eine religiöse, allenfalls künstlerische Praxis transformiert werden, die Fantasie an die Macht.

Solche Heilserwartungen inspirierten die Achtundsechziger auf das Gründlichste – die Achtundsechziger, die jetzt gefälligst die Bühne und den Zuschauerraum verlassen sollen, viele von ihnen sind dazu liebend gern bereit, voller Verachtung, in beginnender Altersdepression, es ist doch alles eitel und ein Haschen nach Wind. Wir hatten ja nicht nur die Heils-, wir hatten erst recht die Unheilserwartungen auf unserer Seite, der drohende Atomkrieg, die zunehmende Kultur- und Sozialbarbarei des Spätkapitalismus, schließlich kam seine zerstörerische und selbstzerstörerische Ausbeutung der Natur hinzu; sie ersetzte im Untergangsszenario den tendenziellen Fall der Profitrate. Die unwiderrufliche Zerstörung der gesellschaftlichen Naturbasis stiftete die frühe Kernidentität der grünen Partei, Jute statt Plastik. Dass hier mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt der plötzliche Durchbruch in eine andere Welt zu schaffen war, erwartete niemand.

Der Rückblick auf die Eschatologie der frühen Grünen macht inzwischen lächeln. Die bei manchen Kadern anhaltende Verehrung für die RAF mich dagegen weniger. Auch sie waren religiöse Aktivisten, und ein genauer Vergleich mit den Attentätern von al-Qaida müsste viel Gemeinsames über beide Gruppen lehren. Keineswegs ging es Baader et al. um das Elend der Massen, um Ungerechtigkeit in einem irgend pragmatischen Sinn, die sich mindern ließe. Die RAF ebenso wie al-Qaida bekämpfen eine im Ganzen korrupte und verdorbene Welt, die einzig verdient, in Blut und Schrecken unterzugehen. Deshalb macht der Gedanke, den Kampf politisch, gewissermaßen auf dem Verhandlungswege zu beenden, so gar keinen Sinn; dass Helmut Schmidt 1977 jede Bereitschaft zu Friedensgesprächen vermissen ließ, trug zentral zu seinem Erfolg bei, die RAF war geschlagen.

Damit wir uns nicht missverstehen: die Sehnsucht nach einer anderen Welt – wie sie gegenwärtig viele Attacis, aber auch edel ergraute Mitglieder der PDS und der Linkspartei erfüllt –, diese Sehnsucht führt nicht mit Notwendigkeit zum Terrorismus. Aber es herrscht so etwas wie ein Kontinuum, ein gemeinsamer Raum: Fragen Sie mal den einen oder anderen edel ergrauten Linksparteiler, vielleicht auch diesen und jenen Schriftsteller oder Künstler aus dem Osten nach Ulrike Meinhof und Ussama Bin Laden, Sie werden – bei aller Ablehnung von Gewalt – viel Verständnis finden, das sich sogar in sehr ähnlichen Worten äußert. Verständnislosigkeit, ja Feindschaft gelten Tony Blair, schon gar George W. Bush, „das sind doch die wahren Terroristen!“ Damit will ich wiederum nichts gegen alte Linksparteiler (oder junge Attacis) gesagt haben. Das Problem ist, dass keine verlässlichen Techniken existieren, die religiöse Inspiration der Politik, die sogar verbitterte Taxifahrer ergreifen kann, auf Dauer zu vertreiben, den Pragmatismus als Weltreligion einzuführen, damit wir tagein, tagaus in stoischer Gleichmut dicke Bretter bohren. Es ist vermutlich die religiöse Inspiration, manchmal bis zur Unkenntlichkeit verkleidet, die den öffentlichen Angelegenheiten ihre Spannung gibt. Man muss eher auf Sublimierung und Profanierung setzen.

Es gehört zur Erfolgsgeschichte der Grünen, dass sie sich, nachdem die Fundi-Sekte ausgeschieden war, der Profanierung überlassen und in eine parlamentarische Kraft verwandeln konnten, die an der Regierung teilhaben kann. Schon zur Erfolgsgeschichte der SPD gehört, dass sie den Prophetenworten, unter denen sie einst angetreten war, in ihrer langen Geschichte allmählich zu entkommen vermochte. Marx dachte sich das Proletariat bekanntlich als Heer des Lichts, das in einer Entscheidungsschlacht, der Revolution, das Heer der Finsternis entmachtet, sodass die wahre und freie Menschheit entsteht. Kein Bundeskanzler ist denkbar, der an diesem Heilsgeschehen mitwirkt.

Was substanziell zu diesen Traditionen gehört und was 68 in sie einreiht – heute erkennt man es bei Attac – : Wahrhaft religiös inspirierte Politik muss sozial gesehen formlos bleiben. 1969 trat meine alte Freundin Olga, die den Rest ihres Lebens dem linksradikalen Sektenwesen widmen würde, in die SPD ein – aber nur, wie sie von vornherein deklarierte, um am eigenen Leibe zu erfahren, wie man von einem solchen Apparat politisch entmachtet und korrumpiert wird. 1969 hatte die Protestbewegung längst zu versickern begonnen, und Willy Brandt gewann die Bundestagswahlen. Aber die Aktivsten der Achtundsechziger konnten das nicht als Erfolg auffassen, sind versunken in Enttäuschung und/oder dem Sektenwesen, das auch die RAF hervorbrachte. Überlebensgroß und unsichtbar hinter dem Horizont: das imaginäre Proletariat, das zerstreute Heer des Lichts, das sich in einem gemeinsamen Willen versammeln und unwiderstehlich diese falsche Welt, in der korrupte Parteien in entschlusslosen Parlamenten die Politik machen, zerschmettert. (Man kann diese ganze Geschichte leicht für das andere Lager erzählen. Nur hat die Rechte ihren Vorrat an Eschatologie zwischen 33 und 45 restlos ausgegeben und kann sich deshalb heute, sieht man vom lunatic fringe ab, als Hüter des Pragmatismus präsentieren, ohne jede ideologische Voreingenommenheit.)

Ich will nicht behaupten, dass sich diese Prozesse demnächst, womöglich unter einer großen Koalition, in Variationen wiederholen. Aber es kommt mir so vor, als setze sich in der Community, die Rot-Grün hervorgebracht hat, bis tief in ihre bürgerlich-kleinbürgerliche Wählerschaft hinein ein allgemeiner Wille zur Formlosigkeit durch. Die Anstrengungen lohnen nicht; schon die laufenden Geschäfte brachten keinen Ruhm; die Reformen zeitigen statt Segen nur Schmerzen und Widerstand, deren Ende nicht abzusehen ist. Warum weiter auf das Regieren setzen? Ziehen wir uns lieber ins allgemeine Räsonnement und in die Diffusion zurück. Vielleicht entsteht so ein neuer Wille zur Politik? Da lässt einen wenigstens die Morgenzeitung kalt: Es waren wenigstens nicht unsere Leute, die schon wieder alles versaubeutelt haben.

Michael Rutschky, geboren 1943, ist Essayist und lebt in Berlin