brief des tages
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Missbrauch des Rufs „Wir sind das Volk“

„Alles andere als harmlos“, taz vom 1. 9. 20

Selbst wenn 20 Millionen Menschen in Deutschland gegen Coronamaßnahmen (oder Flüchtlinge oder sonst etwas) sein würden, wären sie nicht das Volk.

Das antidemokratische Element all der Proteste, in denen „Wir sind das Volk“ gerufen wird, liegt in der Anmaßung, die ganze Bevölkerung zu sein. Von da aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, sich legitimiert zu fühlen, die Macht auch ohne demokratische Wahlen an sich zu reißen.

„Wir sind das Volk“ war 1989 ein Ruf, der mitteilen wollte, dass das Volk kein abstrakter Propagandabegriff der Macht ist, sondern die real existierende Mehrheit der Bevölkerung. Es handelte sich um den Aufstand des Bezeichneten gegen seine missbrauchte Bezeichnung. Inzwischen ist der damalige Ruf heruntergekommen zur bewussten Majoritäts-Täuschung, und das Wort „Volk“, das damals noch eher auf Bevölkerung verwies, scheint heute zunehmend „patriotischer Retter des Volksgedankens“ und immer öfter auch das Völkische zu meinen. Sobald er zu hören ist, ist Skepsis angebracht.

Wolfram Hasch, Berlin