wortwechsel: Die Demo erregt die Gemüter
taz-Leser*innen reagieren sehr unterschiedlich auf die Demonstration am Wochenende. Der Tenor ist: Nicht alle, die dort demonstrieren, sind Spinner und Rechte
Verschiedene Berichte zur Anti-Corona-Demo
taz vom 31. 8. 2020
Kein kritischer Journalismus
Ihr habt euch irgendwann einmal dem kritischen Journalismus verschrieben. Jetzt traue ich meinen Augen kaum, wenn ich den Bericht und die Bewertungen zu der Demonstration gegen die Coronabeschränkungen lese. Vorneweg: Ich bin entschieden gegen den Missbrauch solcher Veranstaltungen durch Nazis, Verschwörungstheoretiker und Coronaleugner! Ich bin 60 Jahre alt, habe drei Kinder und vier Enkelkinder und arbeite als Psychologin in der Kinder- und Jugendhilfe. Ich würde auch lieber eine andere Plattform finden, um meinen Anliegen und Fragen Gehör zu verschaffen, als in Kauf nehmen zu müssen, dass ich in einem Zug mit den oben genannten Schwachköpfen laufen muss. Ich hatte deshalb auch lange gezögert. Aber da weder die Politik noch die Medien anscheinend ansprechbar sind für kritische Fragen und Meinungen, habe ich letzten Endes keine andere Wahl mehr für mich gesehen. Und so geht es vielen. Mir geht es nicht darum, den Staat umzustürzen, Verschwörungstheorien zu verbreiten oder die Existenz des Coronavirus zu leugnen. Mir geht es um die Frage, wie offen und transparent über alle Aspekte dieser komplexen Thematik informiert und diskutiert wird bzw. werden darf. Mir geht es um die Frage, ob die psychische Gesundheit nicht genauso viel Wert ist wie die körperliche. Mir geht es um die Frage, ob die Politik bei ihren Entscheidungen die gebotene Verhältnismäßigkeit berücksichtigt und zu diesen Themen außer Virologen auch Fachleute aus anderen Bereichen genügend zurate gezogen hat. Und warum jetzt mit einer Unverhältnismäßigkeit die Freiheit einer ganzen Gesellschaft massiv eingeschränkt und die Wirtschaft extrem belastet wird und Unsummen im Handumdrehen aufgebracht werden, für die die nachfolgenden Generationen voraussichtlich über Jahrzehnte bluten müssen. Was steckt hinter all dieser einseitigen Informationspolitik, die erschreckenderweise von den meisten Medien mitgetragen wird? Bitte, liebe tazler, kehrt zurück zum kritischen Journalismus, werdet eurem Auftrag einer unabhängigen und differenzierten Berichterstattung und Kommentierung gerecht.
Nicola Kampa, Berlin
Sachliche Balance
Dankeschön für die Demo-Reportage in der taz – dieser Text wahrt eine vernünftige, sachliche Balance und beobachtet differenziert, wie es ja auch zu einer Reportage passt. Natürlich gibt es auch „normale“ Leute, die finden, dass die Abwehrmaßnahmen gegen die Coronapandemie in keinem sinnvollen Verhältnis zur Bedrohung stehen, ungeeignet sind oder unangemessen in Bürgerrechte eingreifen. Ich finde es wichtig, dass auch diese Leute ihre Meinung äußern und dafür demonstrieren können – und es kommt mir gesellschaftlich gefährlich vor, sie zu schnell in den Spinner-und-Rechte-Kübel zu stecken, sonst werden sie da drin leicht zu echten Spinnern und Rechten. Danke auch an Anja Maier, die nicht nach dem Wasserwerfer ruft. Wir sollten unser rechtsstaatliches Gleichgewicht immer wieder finden, einfordern und halten – mit breit ausgelegtem Demonstrationsrecht und angemessenem Polizeieinsatz, zum Schutz unserer eigenen Freiheit, die eben auch die Freiheit der Andersdenkenden ist.
Tobias Rischer, München
Erschreckend rücksichtslos
Es ist schon erschreckend mit anzusehen, welche gefährliche Melange sich da bei den Coronagegnern zusammenbraut. Die Demonstration am Samstag in Berlin, bei der ca. 38.000 angeblich für ihre Freiheitsrechte demonstrierten und dabei teilweise rücksichtslos gegen die Regeln verstoßen haben, sollte uns alle aufhorchen lassen. Wenn Coronagegner mit rechtsradikalen Kräften gemeinsam durch die Stadt marschieren und in Statements vor laufender Fernsehkamera die Pandemie zu bagatellisieren versuchen und nur von ein paar läppischen Toten sprechen, obwohl die Zahl bei über 9.200 liegt, dann ist das nicht nur zynisch, sondern auch abstoßend und menschenverachtend zugleich! Die demokratische Gesellschaft ist aufgerufen, sich endlich zu wehren!
Thomas Henschke, Berlin
Extremisten in der Minderheit
Nein, neben Reichsbürgern möchte man nicht in einem Demonstrationszug laufen. Und jene, die hinter Corona eine Weltverschwörung von Bill Gates sehen, sind auch nicht die Repräsentanten kritischen Denkens. Doch in jeder Demonstration laufen Leute mit, die einem nicht passen. Und in Berlin waren Extremisten eine fast verschwindende Minderheit, anders als es uns Massenmedien und Politik weismachen wollen. Man muss nur die Bilder der friedlichen Menschenmenge des Demonstrationszuges ansehen: Sehen so durchgedrehte Extremisten aus? Wovon aber wird in erdrückender Mehrheit von den Massenmedien berichtet? Von 200 Bekloppten, die in den Reichstag eindringen wollen (natürlich wird von stürmen gesprochen …). Zehntausende friedlicher Demonstranten werden oft noch nicht einmal erwähnt. Ist das seriöse Berichterstattung? Worum geht es der massenmedialen Darstellung und jener der Politiker? Schlicht darum, Kritik an ihrer offiziellen Doktrin zu ersticken. Die begriffliche Schlachtplatte, die zum Austilgen abweichender Meinung aufgetischt wird, ist bemerkenswert. Fake News wird ja mittlerweile so inflationär benutzt, dass bald jedem offensichtlich sein dürfte, dass es ein Synonym für Meinung, die mir widerspricht, ist. Und Verschwörungstheoretiker sind eben die, welche eine andere Meinung haben.
Philipp Imm, Mengen
Rio-Reiser-Zitat
„Das ist unser Haus“
taz vom 31. 8. 20
Im nationalen Betroffenheitswettbewerb mit diesem Bild zuzulassen, dass die Verirrung von einem Haufen wirrer Nazis zu einem „Sturm auf den Reichstag“ umgedeutet werden kann und so der Nazipropaganda Vorschub zu leisten wäre schon dämlich genug. Auch noch den Titelsong der Bethanienbesetzer_innen, voll von antiautoritärer Energie und radikalem Aufbruchspathos, auf den Sitz der parlamentarischen Vertretung der BRD umzumünzen ist einfach nur furchtbar. So viel besser die parlamentarische Demokratie als die faschistische Barbarei sein mag: das ist fehlgeleitete Übersolidarisierung für eine Zeitung, die sich ja doch irgendwie noch als emanzipatorisch begreift. Im Übrigen glaube ich nicht, dass die Rechten schwächer werden, wenn man sich symbolisch so sehr mit der politischen Klasse solidarisiert. Die AfDler halten nicht ohne Grund „die Antifa“ für eine Jugendorganisation „der Altparteien“. Natürlich ist das Quatsch, aber als Antifaschist_innen sollten wir uns vielleicht angesichts erstarkender faschistischer Bewegungen deutlich machen, was das bedeutet.
Erik Pauls, Offenbach
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