Der „Wilde Westen“ lebt

„Bodies are missing for weeks“ singt Joey Burns von Calexico, die heute in der Arena spielen, über die Jagd auf illegale Einwanderer. Eine Reportage über die neuen „Heimatschützer“ aus Mexiko

VON CORINA NIEBUHR

In der Sonora-Wüste in Arizona schmerzt die Stille in den Ohren. Die Hitze brennt sich bis in die Knochen. Sie ist erbarmungslos. Der Tod kommt langsam. Irgendwann setzen die Nieren aus. Am Ende reißen sich die Menschen die Kleider vom Leib, weil jede Berührung mit Stoff unendlich schmerzt.

Überlebende einer Gruppe Migranten aus Mexiko haben im Buch „Devil’s Highway“ beschrieben, wie andere an ihrer Seite bei der illegalen Einreise in die USA verdurstet sind. Es passierte im Mai 2001 im Niemandsland von Arizona, nicht weit von der Wüstenstadt Tucson entfernt. Die Band Calexico, die in Tucson lebt, hatte da schon längst ihr drittes Album „Hot Rail“ aufgenommen, auf der Joey Burns das Elend der illegalen Einwanderer besingt: „Bodies are missing for weeks … on the Crystal Frontier“.

An dieser Grenze erwacht der „Wilde Westen“ zu neuem Leben. Wo einst der berühmte Revolverheld Wyatt Earp mit seinen Brüdern Banditen nachstellte, patrouillierten im April so genannte Minutemen durch die Wüste und jagten Migranten. Das umstrittene Bürgerwehr-Projekt startete damit in Arizona in seine erste Phase. Rund 1.000 Freiwillige aus mehreren Landesteilen der USA waren dabei. Im Herbst wollen sie zurückkommen – zu tausenden, versprechen die Organisatoren. Minuteman-Gründer James Gilchrist soll gesagt haben: „Wir müssen unsere Heimat schützen, die durch Horden einfallender illegaler Ausländer ausgeplündert wird.“

Zwar schreibt das Projekt seinen „Heimatschützern“ eine unbewaffnete Menschenjagd vor, doch Bürgerrechtsverbände und Vertreter der mexikanischen Regierung bezweifeln, dass sich die Teilnehmer daran halten werden. Medienberichten zufolge sollen unter ihnen auch Mitglieder von rechtsextremen Gruppen sein, so genannte „White Supremacy Groups“. Fremdenfeindliche Übergriffe werden befürchtet. Nach ihrem ersten Auftritt im April rühmten sich die Minutemen, dass sie den Strom der Migranten in ihrem „Operationsgebiet“ gestoppt hätten.

Dabei ist es immer wieder das gleiche tödliche Spiel: Die Migranten weichen ihren Jägern aus, gehen durch noch gefährlichere Gebiete und sterben dann in noch größerer Anzahl. Diesen Zusammenhang beklagt selbst die für den Grenzschutz zuständige Border Patrol mittlerweile öffentlich. Sie hat in der Sache Erfahrung, lenkt sie doch selbst dieses tödliche Spiel seit Jahren.

Die Menschenrechtsgruppe Humane Borders in Tucson betrachtet die jüngste Entwicklung mit Sorge. Man hat auch Angst um die eigenen freiwilligen Helfer, die sich seit 2001 täglich ins Niemandsland aufmachen, um die mittlerweile 72 Wasserstationen zu füllen.

Wenn eine Band dieses Drama thematisiert hat, das sich seit über zehn Jahren in der Wüste Arizonas abspielt, dann ist es Calexico. Tausende sind umgekommen, seitdem die amerikanische Grenzpolizei besiedelte Gebiete mit Nachtsichtgeräten, Bewegungsmeldern und einem hohen Metallzaun sichert. Die Menschen nehmen nun den gefährlichen Weg durchs Niemandsland, wo der Zaun niedrig und die Luft im Sommer bis zu 50 Grad heiß ist. Seit Jahresbeginn sind dabei wieder über 100 Migranten umgekommen.

Nicht alle verdursten. In den Wintermonaten erfrieren die Menschen. Andere werden von „Kojoten“ erschossen, ihren Schleppern, oder sterben in den Verfolgungsjagden, die sich die Schlepper mit der Grenzpolizei liefern.

Burns und Convertino waren früher die Rhythmusgruppe von Giant Sand und starteten Calexico vor neun Jahren zunächst bloß als Nebenprojekt. Nach vier Calexico-Alben ist davon keine Rede mehr. Das jüngste und erfolgreichste Album, „Feast Of Wire“, brachte die Band 2003 in die europäischen Charts. Touren durch Australien und Japan folgten. Auch in den USA wird Calexico immer bekannter. Heute Abend sind die Musiker zurück in Berlin. Ihr unverwechselbarer Sound, eine Klangwelt aus Country, Folk, Jazz, Rock, Pop, Tex-Mex, Mariachi, Morricone-Geist und merkwürdigen Soundexperimenten wird diesmal die Arena erfüllen. Dabei ist die Band Calexico weit von den gängigen Klischees entfernt, auf denen andere, wie die deutsche Band Boss Hoss, genüsslich mit Cowboyhüten und weißen Rippenshirts herumreiten.

Über ihren exotisch anmutenden Sound findet mancher der Europäer, die ihre Musik so gerne hören, zu den Dramen, die sich vor der eigenen Haustür abspielen – im Mittelmeer oder in luftdichten Lkw-Containern auf dem Weg durch Europa. Wenn Calexico heute Abend in der Arena die Songs „Crystal Frontier“ und „Across The Wire“ anstimmt, sind in Arizona wieder tausende Migranten auf den Trampelpfaden im Niemandsland unterwegs.

Calexico in der Arena, 20 Uhr