piwik no script img

Archiv-Artikel

Die historische Sommerdebatte

Schriften zu Zeitschriften: Streit um Götz Alys „Hitlers Volksstaat“ und den aktuellen Abbau des Sozialstaats

Als die Feierlichkeiten zum 60-jährigen Ende des Zweiten Weltkriegs vorbei waren, erwartete man ein vorübergehendes Abflauen der historischen Retrospektiven. Doch wie ein Blick in die politischen Zeitschriften verrät, hat sich zumindest mit „Hitlers Volksstaat“ von Götz Aly ein historischer Debatten-Dauerbrenner in den Sommer hinübergerettet.

Dabei nimmt sich Alys These, die NS-Führung habe sich die Loyalität der Deutschen durch eine großzügige Sozial- und Steuerpolitik erkauft und den Krieg überwiegend durch den Raub an jüdischem Eigentum und die Ausplünderung der besetzten Gebiete finanziert, sodass die Shoah nur „als der konsequenteste Massenraub der modernen Geschichte“ völlig verstanden werden könne, eigentlich als relativ unspektakuläre Erweiterung der schon bekannten Verbrechen aus. Kann es in einer von Korruptionsskandalen erschütterten Republik nicht sogar einen Wiedererkennungseffekt auslösen, einmal durch den irrationalen Schleier der Diktaturbegeisterung hindurch auf Tuchfühlung mit den damaligen Zeitgenossen zu gehen und bei ihnen wohl vertrautes materielles Vorteilsdenken zu finden?

Doch gerade hier liegt ein Problem. Denn abgesehen von den Einwänden einiger Historiker, dass Aly falsch bilanziere und den Einfluss von NS-Ideologie und Antisemitismus herunterspiele, scheint die größte moralische Herausforderung seiner These von der Gefälligkeitsdiktatur in der polemischen Diskreditierung des Sozialstaatsgedankens zu liegen.

„Plötzlich standen Fortschrittlichkeit und universalethische Modellhaftigkeit der deutschen Wohlfahrtssysteme in Frage“, stellt der Historiker Andreas Krause in der Juli-Ausgabe des Merkurs konsterniert fest. Krause begreift „Hitlers Volksstaat“ als „eine Drohung, eine frühe Reaktion auf die kommenden Krisen deutscher Geschichtspolitik, ein Versuch, die Schuldgefühle verarmender Staatsbürger zu fixieren, von denen man künftig beides verlangt: Selbstkritik und Wohlstandsverzicht“.

Aly empfehle den Deutschen „die Armut von morgen als Sühne für die Verbrechen von gestern“. Krause erkennt darin eine „auf den Deutschen an sich“ zielende Anklage, die sich ungerechterweise wohl nur auf „die schlechte Kontinuität des deutschen Volkscharakters“ beziehen könne.

Dagegen erklärt der Historiker Michael Wildt in der vom Hamburger Institut für Sozialforschung herausgegebenen Zeitschrift Mittelweg 36 (3/2005) die breite Zustimmung für Alys Volksstaatsthese damit, dass sich die BRD beim Umbau ihrer Wohlfahrtsstaatlichkeit offenbar in einer Orientierungskrise befinde: „In einer Situation, in denen so vielen Bürgern, erschöpft vom konzeptionslosen Pragmatismus der letzten Jahre, jede Idee für das Soziale abhanden gekommen zu sein scheint, entlastet das Buch von Aly ungemein.“

Im Fadenkreuz von Alys Kritik stehe tatsächlich „der Sozialstaat als ein angebliches System von Gefälligkeiten und ‚sozialer Wärme‘ zur Loyalitätssicherung, der von Hitler zwar nicht erfunden, aber“, so Aly, „ ‚mit Schwung weiterentwickelt‘ wurde und der heute nun, gewissermaßen als letzter Akt notwendiger Vergangenheitsbewältigung, endlich abgebaut werden muss.“

Diese Ächtung des Sozialstaates werde von einer Generation mit Applaus bedacht, „die vormals das Großkapital als Urheber des Faschismus betrachtete und nun – desillusioniert, aber ohne auf den Ökonomismus zu verzichten – die Massen und deren materielle Interessen für den Nationalsozialismus und den Holocaust verantwortlich macht“. So flüchte sich eine konvertierte Linke, die sich in Teilen nie mit ihrer eigenen totalitären Versuchung auseinander gesetzt habe, von der normativen Herausforderung, das Soziale neu und vor allem freiheitlich zu denken, „in den bedenkenlosen Neoliberalismus“.

In der Juli-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik kommt Aly selbst zu Wort und will in Sachen Sozialstaat klargestellt wissen, „dass es völlig verrückt ist, das, was man heute ändern oder abschaffen muss – weil sich die Familienstruktur, die Bevölkerungsentwicklung, die weltpolitische Lage verändert haben – , damit begründen zu müssen, dass es in der Zeit des Nationalsozialismus kreiert oder gefördert wurde“. Hinter der ganzen Diskussion verberge sich die problematische Praxis, „Geschichte in positive und negative Linien einzuteilen“, weil man sich schlichtweg nicht vorstellen wolle, „dass Dinge wie der Sozialstaat (…), die wir (…) für gut halten, unter bestimmten historischen Konstellationen Böses und Verbrecherisches bewirkt haben“.

Damit wäre die Sache ja eigentlich vom Tisch. Aber kann man in der gegenwärtigen Win-win-Situation, die es Vermögenden erlaubt, sich der Finanzierung sozialer Transferleistungen zu entziehen, während andere Bevölkerungsgruppen zunehmend auf diese Zahlungen angewiesen sind, nicht trotzdem extrem nervös werden? Vielleicht ist es nur dieses verschwommene Unbehagen darüber, dass vermutlich irgendjemand mal für das drohende Finanzdebakel geradestehen muss, das uns mentale Zuflucht beim Dritten Reich suchen lässt. JAN HENDRIK WULF

„Merkur“ 7/2005, 10 € „Mittelweg 36“ 3/2005, 9,50 €Ľ„Blätter für deutsche und internationale Politik“ 7/2005, 8,50 €