: Kreativität in der Box
BRAINIE Micachu & the Shapes heißt das Trio um die umtriebige Londoner Musikerin Mica Levi. Ihr zweites Album ist Pop reinsten Wassers: experimentell, befreiend und waghalsig
VON SOPHIE JUNG
Frickelige Beats und trashiges Gitarrengeschrammel, digitale Sounds und organische Instrumentalklänge, zusammengebraut zu einem voluminösen Ganzen, das zwischen Avantrock, Punkenergie und R&B switcht, dazu der rotzig raue Gesang einer 24-jährigen Londonerin. Micachu & the Shapes wurden 2008 für ihr Debütalbum „Jewellery“ gefeiert. Nun erscheint ihr zweites Album, „Never“, auf Rough Trade Records.
Frontfrau, Sängerin und Mastermind der Band ist die aus Surrey stammende Mica Levi alias Micachu. Auf der Liste ihrer Instrumente stehen neben der Gitarre, diverse – selbst gebaute – Klangapparate und ein Staubsauger. Levi habe, heißt es, schon immer alles an Klängen ausprobiert als Kind oder mit den Grime Kids aus dem Londoner Stadtteil Bow als Teenager Mixtapes produziert.
Inzwischen mischt sie noch immer zusammen, was sie an Sounds finden kann, und modelliert daraus ihren eigenen anarchischen Stil. „Aber“, wie Levi in einem Interview mit dem Telegraph sagte, „es gibt in der Popmusik klare Strukturen, und wenn ich mir Grenzen setze, heißt es, dass ich um etliches kreativer bin in meiner Box.“
Die Kreativität in der Box haben Micachu & the Shapes bereits auf ihrem Debütalbum eindrucksvoll unter Beweis gestellt, doch „Never“ setzt noch einen drauf. Gängige Songstrukturen existieren – aber kaum eine Strophe hat dieselbe Länge wie die vorherige, kaum ein Refrain wird beim zweiten Mal so wiederholt wie beim ersten Mal. Übergänge variieren. „Nothing“ etwa, einer der geschmeidigen Songs des Albums mit dem selbstironischen Chorus „Take your pitty and sympathy, there is nothing wrong with me“, wechselt von einer romantischen Refrainmelodie ohne Weiteres zu einem staccatoartiges Gitarrengeschrammel.
Ähnlich überraschend funktioniert der Track „Ok“, der von einem schleppenden Rhythmus urplötzlich in eine andere Tonart hinübergleitet. Experimentell, intelligent, befreiend – zu „Never“ passen die Attribute auch, die seinem Vorgänger „Jewellery“ bereits gegeben wurden, Micachus neues Album aber ist noch ein Stück angstfreier. Und es ist erwachsener, die drei Musiker haben sich mit „Fall“ gar zu einem melancholischen Jazztrack durchgerungen.
Durch den Alltag schwirren
„Never“ ist ein Popalbum ohne Hymnen. Das, was dem Schema der Wiedererkennbarkeit folgt, wird jedes Mal variiert und verzehrt, wird von einem leiernden Orgelton in der Melodie abgewandelt oder von einem Telefonklingeln, Staubsaugergeräusch und sonstigen Frequenzen, die durch unseren Alltag schwirren, gebrochen. Dass Mica Levi und ihre beiden Musikerkollegen, die Keyboarderin Raisa Kahn und der Schlagzeuger Marc Pell, so spielerisch mit gängigen Songstrukturen jonglieren, lässt sich nicht nur auf ihre Do-it-yourself-Attitüde zurückführen. Die drei gehören zur Crème de la Crème akademisch ausgebildeter britischer Musiker. Mica und Raisa lernten sich an der renommierten Guildhall School in London kennen.
Micachu – die Eltern sind beide Musiker – studierte dort Komposition. 2009 erhielt sie die Einladung, für die London Sinfonietta ein Orchesterwerk zu schreiben. „Chopped and Screwed“ heißt dieses Livealbum, das 2011 aus einer Aufführung des Sinfonietta mit Micachu entstanden ist. Ihr Kommentar: „It’s good that it’s over“. Als brillant von Akademikern gelobt und in der Popszene gefeiert, gibt sich Mica Levi selbst mit der Attitüde eines gelangweilten Teenagers. Und das macht sie mit Style: 2008 besetzte sie mit lockig blondierter Punkfrisur ihre Videos, heute hat sie sich zum Brainie mit zugeknöpftem Karohemd, Nerdbrille und Knabenfrisur gewandelt. Ihre Texte drehen sich dabei hauptsächlich um sich selbst: „I stood on my cigarette and decided we hadn’t finished yet“.
„Bullshit“, so kündigte Levi vorab an, würde „Never“ werden. Reine Koketterie!
■ Micachu & the Shapes „Never“ (Rough Trade)
■ Live am 8. August, Festsaal Kreuzberg, Berlin