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: Fragende Blicke: Meint die mich? Was will sie?

Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Sitznachbar Sie aus dem Nichts fragt: „Wie war Ihr Tag?“

Die Fahrt im M41er-Bus ist immer ein Erlebnis: Selten sieht man so viele Lebensstile zusammengepfercht in ein und demselben Raum. Jedem Berliner und Nichtberliner sei die holprige Fahrt vom S-Bahnhof Sonnenallee wenigstens bis zum Hermannplatz ans Herz gelegt (und wer bis zum Hauptbahnhof durchhält, sieht, wie sich die Stadt im Minutentakt verändert): Eine Fahrt in diesem Kulturclash – und die schnöde Touri-Tour im 100er-Bus ist für immer Schnee von gestern.

Doch auch im M41er fasst man in der Pandemie ganz neue Probleme – und Möglichkeiten – ins Auge: Wo vorher ein entmutigter Busfahrer an jeder Haltestelle „Bitte von den Türen wegtreten, ich kann sonst nicht weiterfahren“ flehte, ist mittlerweile ausreichend Platz. Keiner möchte mehr dem anderen, wo nicht ausdrücklich erwünscht, zu nahe treten. Die Türen gehen auf, die Mehrheit der Menschen trägt eine Maske, alles wäre wunderbar – hätte die Pandemie nicht auch völlig neuartige Schwierigkeiten zutage gefördert: Wir Menschen haben keinen Mund mehr. Ob wir unser Gegenüber vorsichtig anlächeln oder voller Heiterkeit anstrahlen, ob wir im Versuch eines Lächelns die Mundwinkel hochziehen oder gleich in die Vollen gehen und Zähne zeigen, macht keinen Unterschied: Keiner sieht’s.

Die Berliner Busfahrenden sind aber, wie die Berliner S- und U-Bahn-Nutzerinnen und Nutzer, ohnehin nicht das kontaktfreudigste Volk. In öffentlichen Transportmitteln beschleicht mich des Öfteren die Ahnung, die Leute würden im Stillen beten, dass nur ja keiner sie anspräche. Regelmäßig ergreifen Sitznachbarinnen neben mir erleichtert die Flucht, wenn auf der anderen Fensterseite nach schier endlos langem Ausharren, in welchem ich ihr körperliches Unbehagen förmlich atme, endlich ein Viersitzer frei geworden ist. Liegt es an mir, frage ich mich in solchen Momenten, leiden sie unter Platzangst oder hat die Großstadt Schuld an ihrer in Fleisch und Blut übergegangenen Anonymität?

Wie oft wurden Sie in S- oder U-Bahnen schon angesprochen? Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Sitznachbar oder Ihre Sitznachbarin sich aus dem Nichts zu Ihnen umdrehen würde und fragt: „Wie war Ihr Tag?“ – „Wie geht es Ihnen?“ Oder, Gott bewahre, „Ich habe gelesen, es gäbe 54 Prozent Singles in Berlin – wo sind sie?“

Ich wurde in meinem bisherigen Berlin-Dasein ein einziges Mal in der S-Bahn angesprochen – und war derart peinlich berührt, dass ich die ganze Zeit über die um mich herum Sitzenden auf ihre Reaktionen überprüfte, anstatt meinem mutigen Gesprächspartner ins Gesicht zu blicken.

Viel Zeit ist seitdem vergangen, und dann und wann versuche ich die zaghafte Andeutung eines Lächelns, die, hoffe ich, meinem Gegenüber meine Freundlichkeit auch in aller Herrgottsfrühe signalisiert und ihn animieren wird, seinerseits Freundlichkeit in die Welt hinauszusenden. Meistens ernte ich verwirrt-fragende Blicke: Meint die mich? Was will sie? Kenne ich sie, oder, noch verheerender, kennt sie mich?

Nein, sie kennt dich nicht, und in Berliner Bussen, S- und U-Bahnen, so meine auf jahrelangem Faktensammeln gestützte Hypothese, wird auch wohl niemals irgendwer irgendwen kennenlernen. Seit Corona ist das Sprechen, Flirten und Lachen in Berliner Verkehrsmitteln mehr denn je heruntergefahren.

Doch wer weiß, möglicherweise erwacht in diesen Zeiten der konstanten Verhüllung ebenso der Wille, das Bedürfnis, sich dem anderen zu erkennen zu geben, ihm zu sagen: „Hallo, das bin ich: mal gut drauf, mal schlecht, aber nicht gänzlich abgeneigt gegenüber der verheißungsvollen Verlockung, die sich hinter deiner Maske verbirgt (Lächeln lässt sich auch mit Maske ausmachen: Achten Sie auf sich hebende Wangenknochen) und nichts weiter sein will als das: ein wohlwollendes Lächeln.“ Marielle Kreienborg