berliner szenen: Zungen flackern wie ein Router
Junge Menschen sitzen gern auf Stufen. Das durfte ich kurz vor dem „Lockdown“ in Concepción erleben, der drittgrößten Stadt Chiles. Erdbeben und Tsunami legten den Stadtkern immer wieder in Trümmern, schufen Platz für potthässliche Anonymarchitektur. Auch wenn sich kaum ein Tourist dorthin verirrt, hat die Stadt eine Sehenswürdigkeit, die es wert ist, sie der kollektiven Fernweh zu überstellen: die weitläufigen, sauber gefegten Treppen der Universität, auf denen sich junge Paare eng umschlungen aneinanderdrücken. Die Zungen flackern wie ein Router oder die Rotorblätter des Helikopters der stets aufmerksamen Carabineri.
Vor Jahren gab es in Stuttgart (der in Berlin wegen der invasiven Schwaben in den In-Bezirken gefühlt drittgrößten Stadt Deutschlands) Proteste gegen den Umbau des Schlossplatzes. Temporär war da, wo vorher der Schwerlastverkerkehr bebte, eine Freitreppe installiert worden. Sie sollte weichen für die Kunst. Die gern dort sitzenden Glotzer und Trinker muckten auf. Die Stadtverwaltung zog eine Ersatztreppe hoch aus hellem Stein, die bald unter Kippen und Kaugummis ergraute.
Nur in Berlin sind derartige Treppen obsolet. Man knutscht und trinkt just überall. Im Stehen (Absacker), im Gehen (Wegbier), in der U-Bahn (Metrobier), in der S-Bahn (Bahnbier), in der Straßenbahn (Trambier), neuerdings auch in der Seilbahn über Marzahn (Zahn- oder Seilbier). Die Erfahrung bestätigt ein Alkoholtabu nur für den Bus. Während in diesem Moment die nette Abendbekanntschaft nur mit Handtasche in den N42er steigt und durchs Fenster winkt, den rot verschmierten Mund durch die Maske zum Bussi geformt, „bye bye, my alcoholic friends“ auf Chilenisch wispernd, trotzen die mit den Flaschen der Kielwelle des öffentlichen Nahverkehrs. Timo Berger
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