Das Hansaviertel ist ein Gebirge

Von schneebedeckten Gipfeln und türkisen Bergseen träumen: Der Hamburger Künstler Jan Köchermann hat das mythisch überhöhte Matterhorn nach Moabit gebracht

Humorvoll ist die Installa­tion am Hansaplatz Foto: Tillmann Engel

Von Marlene Militz

Kommt man mit dem Fahrrad die Altonaer Straße entlanggefahren, dann sieht man ihn erst gar nicht. Dabei ist er vom Fuß bis zur Spitze sicherlich acht Meter hoch. Trotzdem muss man ihn suchen. Ich stehe auf dem Hansaplatz, schaue mich um und gehe schließlich in Richtung Hansabibliothek. Hinter dem einstöckigen Gebäude entdecke ich ein schmales Gerüst. Ich laufe einen Bogen und erst da wird er sichtbar. Der etwa zwei Zentimeter schmale Berg offenbart seine Großflächigkeit erst in der Frontalansicht. Nähert man sich von seiner Seite, übersieht man „Horu“ glatt.

„Horu“ ist ein Berg mit vielen Namen. Die Grenze, die die Schweiz von Italien trennt, wurde genau über den 4.478 Meter hohen Alpenberg gezogen. Und so wird er von Italienern Monte Cervino, von Franzosen Mont Cervin, von Deutschen Matterhorn und von den Schweizern des Kanton Wallis liebevoll Horu genannt. Der Künstler Jan Köchermann hat ihn jetzt nach Berlin gebracht. Es ist die letzte Aktion des Modellprojekts „Kunst im Stadtraum am Hansaplatz“, das vom Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte des Bezirksamts Mitte in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung für Kultur und Europa realisiert und mit städtischen Mitteln finanziert wurde.

Ich bin die Einzige, die an diesem heißen Spätnachmittag andächtig vor Horu steht. Immer wieder kommt eine Handvoll Menschen aus der U-Bahn-Station, die direkt an die Hansabibliothek grenzt. Niemand von ihnen scheint sich über den acht Meter hohen Alpenberg zu wundern, der sich in einem backsteinberandeten Wasserbecken spiegelt. Obwohl im Wasser eine Bierdose schwimmt und das Becken zu schmal ist, um die ganze Spiegelung des Berges aufzunehmen, wirkt es doch wie Horus eigener türkiser Bergsee.

Durch eine weiße und eine grau bemalte Fläche bekommt der Berg Plastizität. Er hat eine von der Sonne beschienene schneebedeckte und eine schattige Seite. Auf der schattigen Seite, am Fuße des Berges, klafft ein schwarzes Loch, eine Berghöhle. Ich googele das Matterhorn und finde Bilder eines außerordentlich attraktiven Berges, der tatsächlich die spitze Pyramidenform hat, die die Bergattrappe am Hansaplatz simuliert. Er sieht aus wie von Hand modelliert. Jan Köchermann hat das Matterhorn gut porträtiert. „Wegen seiner markanten Gestalt und seiner Besteigungsgeschichte ist das Matterhorn einer der bekanntesten Berge der Welt“, lese ich auf Wikipedia. Horu ist also berühmt ob seiner Schönheit.

Er macht auch eine gute Figur auf dem Hansaplatz. In seiner direkten Umgebung überragt er zwar alle Gebäude. Doch auch das Hansaviertel ist ein Gebirge. Es entstand im Zuge der Internationalen Bauausstellung von 1957, die das zerstörte Viertel im Sinne des neuen Bauens von 53 Architekten aus aller Welt neu gestalten ließ. Und so kommt es, dass hinter Horu ein Wohnkomplex von Oskar Niemeyer und ein weiterer von Egon Eiermann in die Höhe ragen. Und wenn man auf Horus Spitze klettern könnte, würde man von dort oben auf das leicht gebogene Wohngebäude von Walter Gropius blicken können. Horu befindet sich also in guter Gesellschaft.

Obwohl im Wasser eine Bierdose schwimmt, wirkt es wie Horus eigener türkiser Bergsee

Ich öffne Google Maps und lasse die Route vom Hansaplatz zum Matterhorn berechnen. Wenn ich jetzt mit dem Auto losfahren würde, wären es genau 12 Stunden und 44 Minuten. Alternativ könnte ich 213 Stunden wandern. Dann stünde ich auf der Bergspitze. Ich ziehe den kleinen gelben Mann aus der unteren Ecke des Bildschirms, lasse ihn kurz baumeln und setze ihn dann direkt auf das Matterhorn. Und tatsächlich. Ein tapferer Wanderer hat für Google Maps den Blick vom Matterhorn aufgenommen. Blauer Himmel, ein paar weiße Wolken, auf die man von hier oben hinunterschaut. Ich sehe spitze Bergketten, die nur auf einer Seite mit Schnee bedeckt sind. Direkt vor mir liegt ein roter Wanderrucksack. Links unter mir entdecke ich einen türkisen See.

Ich löse meinen Blick vom Bildschirm und schaue wieder auf Horu, den Stadtberg, hinter dem eine Straßenlaterne hervorlugt. Ich gehe ganz nah heran und begutachte die Berghöhle, in die man tatsächlich reinklettern kann. In das Gerüst, das den schmalen Berg aufrechterhält, ist eine kleine Hütte eingebaut, die den Hohlraum der Höhle ausmacht. Ich drehe mich um und entdecke schräg gegenüber ein kleines unbesetztes Holzhäuschen. Beim Näherkommen identifiziere ich es als Souvenirshop. Es liegen Postkarten und Informationsmaterial zum Matterhorn aus.

Mich überkommt Fernweh. Wie gern würde ich in die Walliser Alpen fahren und schon von weitem die mir nun so bekannte pyramidenartige Silhouette vor hellblauem Himmel erkennen. Es ist die Sorte Fernweh, die mir und meiner Generation bis vor Kurzem unbekannt war. Vorerst muss ich mich mit dem Stadtberg zufriedengeben. Und das ist auch okay.

Horu steht bis zum 20. September am Hansaplatz. Am 19. 9. finden eine Lesung mit Dagrun Hintze und ein Künstlergespräch mit Jan Köchermann statt