LESERINNENBRIEFE :
Wer kommt dafür auf?
■ betr.: „Ein kostenloses Netz für alle“, taz vom 31. 7. 12
So schön sich die schon länger diskutierte Forderung eines kostenlosen Netzes für alle zunächst liest, so kompliziert wird’s bei der Frage nach ihrer praxistauglichen Umsetzung. Wie differenziert zum Beispiel die dazu nötigen Zahlen zusammengestellt und zur Erzielung aussagekräftiger Ergebnisse bewertet sein wollen, zeigen Diskussionen darüber im Netz (telegehirn.wordpress.com/2011/10/20/piratenpartei-in-berlin-und-der-fahrscheinlose-opnv/). Im Fazit der Blogbeiträge bleibt festzustellen, dass die jährlich zur Kompensation der Ticketeinnahmen (zurzeit rund 666 Millionen Euro) zu erhebenden Steuern an eine Vielzahl von Varianten denken lassen. Dazu gesellt sich die Frage, wer überhaupt dafür aufkommen soll – unter den Stichworten Erwerbstätige (vgl. Artikel „Hauptstadt der Abzocker“ auf der gleichen Seite!), Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger, Rentner etc. Auch eventuelle finanzielle Vorteile in Folge eingesparter Schwarzfahrer geben zu allerlei Vermutungen Anlass. Und schließlich muss in diesem Zusammenhang auch die Frage eines eventuellen Übergangs der S-Bahn von der Deutschen Bahn zum Land Berlin geklärt werden – mit einem eventuellen Finanzausgleich von mehr als 500 Millionen Euro, wenn der Bund uns die S-Bahn nicht zu Weihnachten schenkt …
Berlin könnte tatsächlich zeigen, dass sich politischer Gestaltungswille rechnen kann, wie es Sebastian Puschner so schön formuliert. Dazu bedarf es kurzfristig einer ausführlichen Beurteilungsgrundlage in Form eines professionellen Gutachtens von Fachleuten mit langjähriger einschlägiger Erfahrung im ÖPNV. Und mit klar formulierter Aufgabenstellung ließe sich aus deren Empfehlungen – politischen Willen vorausgesetzt – auch mit ausreichender Sicherheit feststellen, ob, und wenn ja wie, sich das fahrscheinlose Fahren mit der BVG seriös gestalten ließe. Die Darstellungen im oben genannten Blog geben zu solchen Hoffnungen den schönsten Anlass und vielleicht auch Arbeitgebern den letzten Kick, sich in einer derart entspannten Stadt als Steuerzahler anzusiedeln!
HANS KRUSENBAUM, Berlin-Kreuzberg
Frohes Vor-sich-hin-Kiezen
■ betr.: „Platte Attitüden“, taz vom 28. 7. 12
Der Artikel bringt uns wenig Erkenntnisse über den Stadtteil Marzahn, aber allerhand, mit dem wir uns gegen „die da“ abgrenzen können. Man fragt sich, ob die Redakteurin tatsächlich so wenig Reflexionsvermögen besitzt. Aber vielleicht ist diese treffende Selbstporträtierung des taz-lesenden Bionade-Biedermeier (sorry, aber der Begriff passt einfach besser als jeder andere) auch gewollt. Schließlich macht sich bei den meisten Lesern an diesem Sonntagmorgen wieder ein wohliges Gefühl breit: Nämlich ganz ganz froh darüber sein zu können, unter seinesgleichen im Prenzl-, X- oder Schöneberg vor sich hin zu kiezen. Dafür sind die 3.000 Euro mehr Miete im Jahr doch ein gut angelegtes Geld. NIELS OELKERS, Berlin
Angstmache statt Information
■ betr.: „Sticheleien gegen Impfgegner“, „Das Risiko wird kleingeredet“, taz vom 26. 7./3. 8. 12
Die Artikel sind einseitig, verkürzen die Problematik und diffamieren pauschal Menschen, die sich kritisch mit Impfungen auseinandersetzen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Masern sind eine schwerwiegende Erkrankung, die weltweit Hunderttausende Opfer fordert. In den Artikeln wird jedoch konsequent unterschlagen, dass die Masernsterblichkeit weltweit in erster Linie ein Problem der Lebensumstände ist, wie beispielsweise Mangelernährung, enger Wohnverhältnisse und einer mangelhaften medizinischen Versorgung. Nachzulesen ist dies etwa bei der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte. Weiterhin wird unterschlagen, dass die Massenimpfung neue Probleme geschaffen hat: Die Erkrankungshäufigkeit hat sich auf diejenigen Altersgruppen verlagert, bei denen Komplikationen wahrscheinlicher sind: Säuglinge, Jugendliche und Erwachsene. Eine Ausrottung der Masern, die durch Massenimpfung weltweit erreicht werden sollte, hat sich als illusorisch erwiesen.
Über all diese Fragen lässt sich streiten. Völlig inakzeptabel ist es jedoch, welcher Ton in den Beiträgen gegenüber Menschen angeschlagen wird, die kritisch über Impfungen nachdenken bzw. ihre Impfentscheidung individuell fällen: Diese Menschen als „ignorant“ und „perfide“ zu bezeichnen, ist beleidigend und zeigt, dass sich die Redakteurinnen nicht ansatzweise mit den Argumenten der KritikerInnen auseinandergesetzt haben.
Eine Impfpflicht ist in Deutschland aus guten Gründen nicht vorgesehen. Eltern dürfen und müssen sich ein eigenes Bild machen und eine Impfentscheidung individuell treffen. Das muss nicht bedeuten, sein Kind gar nicht gegen Masern zu impfen, sondern kann auch heißen, den Zeitpunkt im Einzelfall zu bestimmen. Die Artikel tragen nicht dazu bei, Eltern zu informieren, sondern machen Angst und lassen nur eine Entscheidung zu – nämlich impfen.
FALK LAUE, CLAUDIA GRÖTSCHEL, Berlin