: Harte Schuldsprüche
Der größte Kinderschänderprozess der Justizgeschichte endet mit hohen Haftstrafen für 62 der 65 Angeklagten
PARIS/ ANGERS taz ■ Exemplarisch harte Strafen für die Hauptverantwortlichen der Sexualverbrechen an 45 Kindern hat gestern das Schwurgericht im westfranzösischen Angers verhängt. Franck V. und Patricia M. – das heute geschiedene Ehepaar im Zentrum der Ereignisse – müssen für 18 bzw. 16 Jahre ins Gefängnis.
Das Gericht hält es für erwiesen, dass beide zahlreiche Kinder, darunter ihre drei eigenen, vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen haben. Ein weiteres Mitglied derselben Familie, Philippe V., der Vater von Franck, der Anfang der 90er-Jahre wegen Vergewaltigung seines Sohn im Gefängnis war, bekam gestern 28 Jahre Gefängnis. Unter anderem wegen Vergewaltigung seiner drei Enkelkinder.
Aus der Familie J. wurden gestern zwei Männer verurteilt: Eric J. (39) bekam 28 Jahre wegen Zuhälterei und Vergewaltigung von Minderjährigen. Seinen wegen Sexualverbrechen vorbestraften Bruder Jean-Marc erkannte das Gericht ebenfalls als „schuldig“. Genau wie den ebenfalls rückfällig gewordenen Sexualstraftäter Didier R. Bei Redaktionsschluss der taz dauerte die Verlesung des Urteils über die insgesamt 65 Anklagten noch an.
„Es gibt Menschen, die sehr lange von unserer Gesellschaft getrennt werden müssen, damit sie sich der Schwere ihrer Taten bewusst werden“, hatte der Staatsanwalt mehrere Wochen zuvor in seinem Plädoyer erklärt und Patricia M. eine „inzestuöse, zuhälterische und gleichgültige Mutter“ genannt. Gestern blieb das Gericht nur zwei Jahre hinter dem von ihm geforderten Strafmaß zurück.
Vor der Urteilsverkündung waren die neun Geschworenen und drei Berufsrichter für acht Tage in totaler Klausur, untergebracht in einer Kaserne, um Beeinflussung von außen zu vermeiden.
Bei dem größten Pädophilie-Prozess der französischen Geschichte wurden während 93 Prozesstagen sexuelle Verbrechen an Kindern verhandelt, die zur Tatzeit (1999 bis 2002) zwischen sechs Monate und vierzehn Jahre jung waren.
Die Aussagen der Opfer wurden per Videoband in den Gerichtssaal übertragen. Manche Kinder kamen in Begleitung von Psychologen auch für einige Stunden in den Zuschauerraum des Gerichtssaals – darunter auch die heute zehnjährige Marine, die von 21 Erwachsenen vergewaltigt und von weiteren 30 misshandelt worden war.
Die Angeklagten, darunter 26 Frauen, sind zwischen 20 und 73 Jahren alt und Nachbarn, Onkel, Tanten oder Eltern ihrer Opfer. Die Kinder waren für sie nicht nur Sexualobjekte: Als „Zahlung“ haben die Hauptangeklagten, die sowohl wegen sexueller Gewalt als auch wegen Zuhälterei angeklagt waren, Gegenwerte erhalten, die von Geld über Zigaretten und Alkohol bis hin zu Nahrungsmitteln reichten.
Vor dem Gericht in Angers haben nur 20 Angeklagte voll und 14 teilweise gestanden. Alle anderen leugneten. Oder sagten nichts. Alle stammen aus Sozialwohnungen in Saint-Leonhard, einem sozialen Brennpunkt von Angers. Viele sind arbeitslos, alkoholkrank oder haben als Kinder selbst sexuelle Gewalt erlitten. Manche sind bereits wegen sexueller Gewalt vorbestraft. Manche können weder lesen noch schreiben. Viele stehen seit langem unter behördlicher Vormundschaft.
Die Verteidiger hatten für beinahe die Hälfte der 65 Angeklagten Freispruch beantragt – wegen des sozialen und moralischen Elends, in dem sie lebten. Und weil die sexuellen Straftäter, die den heute Erwachsenen die Kindheit zerstört haben, selbst nie vor Gericht gestellt wurden. DOROTHEA HAHN