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Kalender des Terrors

Verschlüsseltes Wissen, von Historikern enttarnt: Der Dienstkalender Heinrich Himmlers führt in den Arbeitsalltag eines Massenmörders und rassistischen Irren

Matthias Uhl u. a. (Hg.): „Die ­Organisation des Terrors. Der Dienst­kalender Heinrich Himmlers 1943–1945“. Piper Verlag, München 2020, 1.152 Seiten, 48 Euro

Von Klaus Hillenbrand

Ein Werk mit dem Untertitel „Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943–1945“ scheint nicht unbedingt dazu angetan, lange Abende mit erbaulicher Lektüre zu verkürzen. Wer will schon wissen, wen der notorische Massenmörder zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort getroffen hat? Was hat der Leser von dem Wissen, dass der Reichsführer SS am 12. Februar 1943 von 15 bis 16 Uhr einem SS-Sonderkommando einen Besuch abgestattet hat und anschließend einen SS-Gruppenführer traf?

Tatsächlich wären die im Dienstkalender Himmlers gesammelten Daten, Orte und Begegnungen ohne den dazu gehörenden Kontext ein weitgehend verschlüsseltes Wissen. Seinen überragenden Wert erhält das Buch erst durch die weit über eintausend Fußnoten und die Anmerkungen im Text selbst. Sie erklären die Geschichte hinter den dürren Einträgen und versetzen uns in die Lage, ein detailliertes Bild von der Amtsführung Heinrich Himmlers zu erhalten – und sie laden zu weiteren Forschungen ein. Dabei ist die Entdeckung dieser Papiere eine Geschichte für sich. Jahrzehntelang lagen die Kalender verschlossen in Moskau. Erst Anfang der 1990er Jahre entdeckten Wissenschaftler Himmlers Dienstkalender für die Jahre 1941/42 und veröffentlichten 1999 eine vorbildliche Edition. Der nun vorgelegte Band beruht auf dem Fund zweier Ordner im Archiv des russischen Verteidigungsministeriums. Bei der Bearbeitung orientierten sich die Historiker um Matthias Uhl am Werk ihrer Vorgänger.

Und so ist dieser Bearbeitung zu entnehmen, dass Heinrich Himmler am 12. Februar 1943 nicht irgendein SS-Kommando besucht hat. Es handelte sich um das Vernichtungslager Sobibor, im besetzten Polen gelegen, wo zum Zeitpunkt seiner Visite schon weit über 100.000 Juden ermordet worden waren. Der Reichsführer SS wohnte dort einer Vergasung von etwa 200 Frauen und Mädchen bei. Beim anschließenden Treffen mit Odilo Globocnik, dem Leiter des „Aktion Reinhardt“ genannten Massenmords, ging es um eine schriftliche Aufstellung der den Juden geraubten Wertgegenstände und deren Verwertung.

Weiterhin erfahren wir, dass Himmler am 18. Januar 1944 eine Art Abrechnung Globocniks über die zwischenzeitlich beendete „Aktion Reinhardt“ las, dass er am 13. Juli 1944 seine Zustimmung erteilte, 500 Wecker aus der „Aktion Reinhard“ für die Ausstattung von KZ-Wachstuben zu verteilen und am 6. Dezember 1944 die Verteilung von 24.000 Uhren, 3.000 Weckern und 5.000 Füllfederhaltern aus dem Besitz ermordeter Juden an die Waffen-SS befahl. Was wir nicht wissen, ist, wie viele dieser Uhren heute noch bei Nachfahren der Verbrecher ticken.

Dabei war Himmlers Tätigkeit als zentrale Instanz des Judenmords nur eine von Dutzenden Funktionen, denen der Mann nachging. Der Reichsführer SS fungierte zugleich als Chef der deutschen Polizei (und damit des Terrorapparats), als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums, als Verantwortlicher für die Partisanenbekämpfung, als Reichsminister des Innern, Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres und weiterer NS-Institutionen. Seine Machtfülle war nahezu unbeschränkt, seine Politik mörderisch, seine Vorgehensweise drakonisch.

Was wir nicht wissen, ist, wie viele dieser Uhren heute noch bei Nachfahren der Verbrecher ticken

Angesichts dieser Ämterhäufung war Himmlers Tagesablauf eng getaktet. Oft bis in die Nacht hinein traf er Untergebene, gab Befehle aus und, für den Zeitraum dieses Buchs 168-mal, besprach sich mit Hitler. Er war ständig unterwegs, anfangs meist per Flugzeug, später, angesichts der Bedrohung durch alliierte Flugzeuge, mehr mit seinem Sonderzug „Steiermark“, und wechselte dabei seine Feldkommandostellen, gelegen unter anderem in Salzburg/Berchtesgaden, Winniza in der Ukraine und nahe der Wolfsschanze in Ostpreußen. Zudem besuchte er Truppenübungsplätze, hielt Reden vor SS-Offizieren, besaß einen Dienstsitz in Berlin und kümmerte sich parallel um seine Familie wie um seine Geliebte.

Gegen Ende seiner Karriere, da war sein Reich schon stark geschrumpft, versuchte er sich gar erfolglos als Heerführer. Was Himmler bei seiner Arbeit alles behandelte, wirft ein Licht auch auf seinen Charakter. Denn es ging ihm keineswegs nur um Massenmord und Ausbeutung von KZ-Häftlingen, er blieb eben auch ein rassistisch denkender Irrer. Da beauftragte er am 3. März 1943 das NS-Ahnenerbe nach einer dänischen Greisin zu fahnden, die angeblich uralte kimbrisch-wikingische Stricktechniken beherrschte. Am 30. Mai 1944 besprach er mit einem Astrologen die Horoskope von Hitler, Churchill und Stalin, und am 12. Dezember 1944 unterrichtete er sich über beheizbare Konservendosen. Als Pedant entpuppt sich Himmler bei einem Essen, als er entschied, wie die Stempel der allgemeinen SS sich von der Waffen-SS zu unterscheiden hätten, und am 25. Juni 1944, als er darüber Aufklärung verlangte, wie Freuds „Sexualtheorie“ in den Schreibtisch eines entlassenen Kommandeurs einer SS-Helferinnenschule gelangt sei.

Himmlers Dienstkalender endet am 14. März 1945. Da übernahm er die Patenschaft für das achte Kind des SS-Manns Wilhelm Dollbaum. Am 23. Mai desselben Jahres zerbiss er, von einem britischen Kommando enttarnt, eine Zyankalikapsel und starb.

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