die woche in berlin
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Berlin bleibt weiterhin auch in Köpenick erstklassig: der 1. FC Union wollte es da gar nicht richtig spannend machen und sicherte sich schon zwei Spieltage vor Schluss eine weitere Saison in der Bundesliga, der Abschlussbericht zum sogenannten Kentler-Fall legt ein übles Netzwerk offen, bei dem von Behörden Pflegekinder an Pädophile vermittelt wurden, und die Unteilbar-Demo führt auch zur Frage, ob da nicht noch mehr ginge auf Berlins Straßen

Die Party geht in die Verlängerung

Schon jetzt sicher: Die Kicker von Union bleiben erstklassig

Als sich die Spieler des 1. FC Union am frühen Dienstagabend für die Heimpartie gegen den SC Paderborn auf dem Rasen aufwärmten, wurden sie mit amerikanischem Antreiberrock beschallt. Darunter war ein Song der Beastie Boys, dessen Titel programmatisch zum Spiel lautete: „You Gotta Fight for Your Right to Party!“ Party bedeutete Klassenerhalt. Bereits drei Tage vor Saisonschluss hatte Union allen Ernstes die Chance, sich für ein weiteres Jahr eine Bleibe im Oberhaus des deutschen Profifußballs zu sichern. Und das als Neuankömmling, der sich vor einem Jahr doch etwas überraschend Zugang zum elitären Bundesligakreis verschafft hatte.

Bisschen umgucken, die schnieke Atmosphäre genießen und möglichst viele Partys mit der Union-Familie feiern – so ungefähr war der Plan. Wobei das Feiern vor allem den feiergeübtesten Familienangehörigen, sprich den Fans, das Wichtigste war. Erste Bundesliga, eine Pre­miere in der Vereinsgeschichte, als Dauerparty – so hatten sich das die Anhänger der Eisernen gedacht.

Und so wurde es auch, beginnend mit dem Heimspiel im August 2019 gegen RB Leipzig. Torjubel fiel beim 0:4 zwar aus, aber der Tanz in die historische Saison war zünftig eröffnet. Mit dem ersten Heimsieg gegen den ruhmreichen BVB aus Dortmund spielten sich die meritenlosen Köpenicker sogar in einen kleinen Rausch, entfacht durch Willenskraft und Leidenschaft, die Mannschaft und Fans im Austausch zeigten. So hätte es bis zum grandiosen Ende weitergehen können, denn schon im März lagen die Eisernen mit unerwartet vielen Punkten in der Tabellenkomfortzone, doch dann kam, was in Unions Vereinshistorie schon öfters kam: ein unerwartetes Ding. Gut, diesmal traf es alle, aber zunächst sah es doch wieder so aus, als würde es Union – Fans und Verein – besonders treffen. Erster Gruß von Hiob nach der Coronazwangspause: Start der Geisterspielphase ausgerechnet mit der lang ersehnten Heimpartie gegen den großen FC Bayern und gleich darauf das Derby bei Hertha im leeren Olympiastadion. Passend dazu gab’s Niederlagen, und mancher sah schon das dicke Ende heraufziehen.

Dass es ausblieb, Union nun sicher die Klasse hielt und vielleicht sogar den Lokalrivalen Hertha überflügeln kann, macht die Leistung des Teams von Trainer Urs Fischer in dieser denkwürdigen Saison noch bemerkenswerter. Das Recht auf Party wegen einer tollen Saison hatte es sich eigentlich schon vor Dienstag verschafft. Mit dem 1:0 gegen Paderborn hat sich die Mannschaft jetzt zudem das Recht auf eine neue Partysaison erkämpft. Wann genau die beginnt, ist unklar. Schön wäre nur, wenn dann auch wieder Mitfeiernde auf den Rängen im Stadion An der Alten Försterei zugelassen wären. Gunnar Leue

Bisschen umgucken, die schnieke Atmosphäre genießen und möglichst viele Partys feiern – so ungefähr war der Plan

Gunnar Leue über den vorzeitig erspielten Klassenerhalt von Union Berlin

Das Missbrauchs-Netzwerk

Pflegekinder an Pädophile: Kentler-Studie abgeschlossen

Nicht nur von den Medien wurde die sogenannte Kentler-Studie mit Spannung erwartet: Als das ForscherInnenteam der Uni Hildesheim am Montag seine Erkenntnisse über den krassen Fall von Behördenversagen präsentierte, der dazu führte, dass Kinder und Jugendliche jahrzehntelang bei vorbestraften pädosexuellen Pflegevätern untergebracht wurden, war auch einer der Betroffenen anwesend. Für ihn kamen die Worte der Entschuldigung von Bildungssenatorin Scheeres reichlich spät. Scheeres bat die ehemaligen Pflegekinder um Verzeihung für das Versagen der staatlichen Jugendhilfe und versprach ihnen finanzielle Entschädigung – trotz der strafrechtlichen Verjährung der Taten.

Dass sich das Land Berlin sieben Jahre nach den ersten Medienberichten über misshandelte und missbrauchte Pflegekinder endlich seiner Verantwortung stellt, ist überfällig. Doch es steht weiterhin der Verdacht im Raum, dass der Senat hier ein doppeltes Spiel spielt: Schließlich hat der Finanzsenat erst Ende März in einer Klageerwiderung „jegliches Verschulden einer angeblichen Amtspflichtverletzung“ bestritten.

Dabei betonten die AutorInnen der von Scheeres beauftragten Studie, dass es sich hier um Kindeswohlgefährdung in staatlicher Verantwortung handelte. Die ForscherInnen deckten durch akribische Aktenarbeit und Zeitzeugenbefragung ein Netzwerk auf, das offenbar bundesweit agierte. Nicht nur der einflussreiche Pädagoge Helmut Kentler richtete dubiose „Pflegestellen“ ein, in denen er Kinder Pädosexuellen zuführte. Gesinnungsgenossen im Westberliner Jugendamt vermittelten auch Kinder an die hessische Odenwaldschule, wo der pädosexuelle Gerold Becker wirkte. Und es meldete sich ein dritter Betroffener, der angab, als Jugendlicher Anfang der 1980er Jahre in einer Pflegestelle in Westdeutschland untergebracht worden zu sein, die von einem Berliner Bezirks­amt geführt wurde.

Der Pflegevater, ein Professor der Sozialpädagogik, war ebenfalls übergriffig – und das verantwortiche Bezirksamt taub für alle Beschwerden. Auch zum Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gab es wohl einschlägige Querverbindungen.

Die Senatsverwaltung für Jugend war also, so drastisch muss man es sagen, das Zentrum eines bundesweit agierenden Missbrauchs-Netzwerks. Und zwar mindestens bis 2003. Wenn Scheeres es ernst meint mit der Aufarbeitung, dann muss sie jetzt erst richtig loslegen. Und zwar im Keller ihres Hauses. Dort lagern Tausende noch unerschlossene Pflegekinderakten. Vielleicht auch die Beiakte des in Obhut des „Pflegevaters“ Fritz H. verstorbenen mehrfachbehinderten Jungen, dessen Tod bis heute ungeklärt ist. Nina Apin

Demonstranten in bunten Ketten

Unteilbar-Demo: Tausende bilden ein „Band der Solidarität“

In jenen düsteren Zeiten vor Corona war die #unteilbar-Demonstration im Herbst 2018 ein Fanal, ein Zeichen, dass nicht allein Neue Rechte und AfD die politischen Diskurse bestimmen müssen: Mehr als 200.000 Menschen gingen in Berlin gegen Rassismus und für Solidarität auf die Straße. Als die Ersten am Endpunkt, der Siegessäule, ankamen, waren die Letzten am Startpunkt, dem ­Alexanderplatz, noch gar nicht losgelaufen.

Kein Wunder, dass in diesen düsteren Zeiten seit Corona mit ihren vielen unsäglichen rechtsoffenen „Hygienedemos“ das Unteilbar-Bündnis aus 130 Gruppen und Organisationen eine Neuauflage wagte – auch wenn klar war, dass diese Masse weder erreicht werden würde noch sollte. Schließlich gilt in Berlin zwar keine Obergrenze der TeilnehmerInnenzahl mehr wie im März und April. Aber die AnmelderInnen müssen ein Hygienekonzept vorlegen und erklären, wie sie die Auflagen einhalten ­wollen.

Die Idee des Bündnisses war so einfach wie clever: Verbunden durch bunte ­Dreimeterbänder, sollte sich eine neun Kilometer lange Menschenkette vom Brandenburger Tor bis zum Hermannplatz ziehen. Und das klappte. Viele Tausend Menschen bildeten ein anderthalbstündiges „Band der Solidarität“, an manchen belebten Stellen sogar aus mehr als einer Schicht. Über 20.000 Menschen seien gekommen, meldeten die Veranstalter; sogar die Polizei sprach von 8.000. Protestiert wurde gegen Rassismus und für die Verkehrswende, für Geflüchtete und gegen Sozialabbau, gegen Nazis und für Solidarität.

Die Stimmung entlang der Kette war, bei bestem Sonnenschein, prima, aber natürlich lange nicht so ergreifend und überwältigend wie beim Massenauflauf 2018. Dafür lobte die Polizei die Teilnehmenden, sie hätten die Hygienevorgaben geradezu vorbildlich eingehalten. Tatsächlich trug ein sehr großer Teil einen Mund-Nase-Schutz, selten ballten sich die Menschen hier so wie eine Woche zuvor auf der Black-Lives-Matter-Demo am Alexanderplatz.

Der einstige Aktivist und heutige grüne Stadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg Florian Schmidt hatte Anfang April in einem taz-Beitrag zu Protesten in Coronazeiten geschrieben: „Es braucht einerseits angstfreies Experimentieren, andererseits eine solidarische Umsetzung der Corona-Einschränkungen, ohne Wenn und Aber.“ Daran gemessen, hat der Unteilbar-Protest vom Sonntag alle Kriterien erfüllt.

Nur: Das Experimentieren darf damit nicht aufhören. Denn eine Menschenkette, bei der Bänder auch den Abstand sicherstellen müssen, ist gleichzeitig ein Protest in Ketten. Eine breite Wirkung erzielt Masse erst durch sichtbare Masse. Die aber ist unberechenbarer, sie lässt sich nicht so leicht steuern. Berlin hat jedoch Straßen und Plätze, die übersichtlicher sind als der Alex und gleichzeitig viel Raum bieten für Protest. Standardmäßig könnte die Straße des 17. Juni bis zur Siegessäule am Wochenende für Demonstrationen gesperrt werden. Markierungen auf dem Boden zeigen die Stehplätze mit Abstand an, die im regelmäßigen Rhythmus für unterschiedliche Anliegen eingenommen werden können. Die Autofahrer werden jammern, aber immerhin ist das Versammlungsrecht ein Grundrecht. Und da gilt freie Bahn für freie DemonstrantInnen.

Bert Schulz