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: Kleiner Katechismus des exmatrikaluierten Fahrradfahrers

Das Wintersemester war mein letztes, nun bin ich exmatrikuliert, komme nicht mehr in Genuss des Semestertickets, und dachte, bevor ich der BVG jeden Monat 80 Euro in den Rachen schmeiße, fahre ich Fahrrad. Anfang März, bevor Corona losging, habe ich mir dann eins gekauft.

Für die meisten ist Rad fahren eine so selbstverständliche Art der Fortbewegung, dass sie nicht weiter darüber nachdenken. Wenn ich Leuten begeistert davon erzähle, wie viel schneller ich mit dem Fahrrad bin als zu Fuß, schauen sie mich an, als hätte ich ihnen gerade erzählt, dass gekochte Nudeln besser schmecken als ungekochte Nudeln.

Eine poetische Art der Fortbewegung ist das Fahrradfahren. Man bewegt sich schnell genug, um aus der normalen Geschwindigkeit, aus dem Alltagstrott auszubrechen, rauscht durch die Straßen wie in einem Zeitraffer, ist aber trotzdem langsam genug, seine Aufmerksamkeit nicht nur auf den Verkehr richten zu müssen, sondern auch Menschen, Läden und Gerüche wahrnehmen zu können. Man sitzt nicht in der isolierten Geräuschkulisse eines Autos, sondern hört die Straße, hört die Stadt, aber eben im Vorbeifahren, als kurzer Beobachter, der schnell verschwindet.

Nichts Neues unter der Sonne. Für mich aber. Und irgendwie ist das auch eine Anleitung zum Glücklichsein: Sich manchem zu entsagen, für einige Zeit, um sich ihm dann doch hinzugeben und es als etwas völlig Neues, Bahnbrechendes zu begreifen und darin eine Magie zu sehen, die später, ist sie erst einmal Alltag geworden, verborgen bleibt.

Wie schön der Tiergarten doch ist, wenn man ihn mit dem Fahrrad durchquert, sich einen Weg durch die Spaziergänger bahnt.

Das Fahrrad war kein hellsichtiger Coronakauf. Ich hatte Glück. Wenige Wochen später, habe ich gehört, waren alle bezahlbaren Fahrräder weg. Ich bin in den vergangenen drei Monaten nur ein Mal Bahn gefahren, drei Stationen Ringbahn, weil das Fahrrad nach einem Sturz vorne verbogen war und nicht mehr fuhr, ein Windstoß hatte das stehende Rad zu Boden geknockt. Der nette Fahrradhändler nebenan, Typ Wiener Glatzkopf, zog es wieder gerade und wollte nicht einmal Geld dafür. Bei einem Kfz-Mechaniker würde einem das nicht passieren. Die zocken ab. Fahrradhändler sind auf meiner Seite.

Immer noch keine Konzerte, immer noch keine Kinobesuche, aber wenigstens kann man in Restaurants wieder draußen sitzen und muss das Essen nicht mehr mitnehmen. Auf Tellern angerichtet schmeckt es besser als in Pappschachteln geschmissen. Und wenigstens haben die Bibliotheken wieder geöffnet. Nicht die Amerika-Gedenkbibliothek am Tempelhofer Ufer besuchen zu können, gehörte für mich zu den schmerzhaftesten Einschränkungen der Coronazeit. Irgendjemand hat mal bei Twitter geschrieben, wenn es Bibliotheken nicht schon gäbe, würden sie heute nicht mehr gebaut werden, weil sie wie eine realitätsferne, linksradikale Utopie daherkämen. Man darf sich dort stundenlang aufhalten, stöbernd und schmökernd, und niemand erwartet, dass man etwas dafür bezahlt? Und dann darf man die Sachen auch noch mit nach Hause nehmen? Absurd.

Gerade haben die Bibliotheken noch nicht vollständig geöffnet, bereits Bestelltes darf aber abgeholt werden. Ich war letzte Woche da, stand draußen in der Schlange, richtete mich nach den Bodenbemalungen, die anzeigten, welchen Abstand ich einhalten musste, wartete, bis ich reingewunken wurde, und freute mich darüber, wie viele Menschen dort mit mir standen, in Zwei-Meter-Intervallen, und das Gleiche taten. Jan Jekal