Aus den vielen Büchern ein Buch machen

BESESSEN Er füllt Notizbuch um Notizbuch – ein Besuch beim Berliner Schriftsteller Tobias Premper

„Situationen entstehen erst, wenn man sie aufschreibt“

TOBIAS PREMPER

VON DAVID DENK

Und schon wieder ist Tobias Premper seinem Ziel ein Stückchen näher gekommen: Die Fotografin lächelt. „Eine Frau stand vor einem Briefkasten und fluchte“, liest sie vor. „Sie hatte vergessen, auf einen der Briefe die Adresse zu schreiben, und beschimpfte sich nun selbst.“ Jetzt deutet Tobias Premper ein Lächeln an, weil er ja gerade das mit seinem Buch erreichen will: den Blick auf den Alltag und vielleicht sogar sich selbst zu verändern.

„Tatsächlich passiert“, sagt er auf der Terrasse des Kreuzberger Cafés und wiederholt das Vorgelesene, nur nicht so schön. Irgendwas sagen, irgendwie reagieren, bloß keine Gesprächspause entstehen lassen nach diesem Kompliment, das das Lächeln der Fotografin ja zweifellos war.

So sind Menschen – und wie Menschen eben so sind, genau das ist das literarische Thema von Tobias Premper. „Ich will verstehen, was vor sich geht“, sagt er. Er versuche Situationen und Gedanken auf den Grund zu gehen, indem er sie in Sprache übertrage. „Ich glaube sogar, dass diese Situationen überhaupt erst entstehen, wenn man sie aufschreibt.“

In „Das ist eigentlich alles“ versammelt Premper, geboren 1974, Notizen aus den Jahren 2004 bis 2010, niedergeschrieben in 17 Notizbüchern. In seinen Aufzeichnungen beobachtet er seine Umgebung in Berlin und anderswo, aber immer auch sich selbst, so präzise und grundempathisch, dass einem das Herz aufgeht. Die Lektüre wirkt auf das Gemüt des Lesers wie die von den Chinesen bei Olympia 2008 verschossenen Silberjodidraketen auf den wolkenverhangenen Himmel über Peking – so aufheiternd wie erhellend.

Viele Zeilen springen einen an wie der Refrain eines Songs im Radio, den man mitsingen möchte, noch bevor man den Text kennt. „Zur Begrüßung umarmte sie mich wie einen verschwitzten Jogger“, steht da, oder: „Er schlief drei Mal in der Badewanne ein und überlebte. Nun konnte er alles tun.“ Der Zauber von Prempers Miniaturen besteht darin, dass er nicht nur die Freuden des Alltags umarmt, sondern auch dessen Zumutungen. Er pendelt zwischen Zorn und Hoffnung, Weltekel und Lebenslust. Beides ist für ihn nicht zu trennen: „In der Schönheit ist deren Vergänglichkeit schon angelegt.“

Premper illustriert das mit einer Notiz aus seinem Buch, in der ein Junge staunt, wie schön eine Blume ist, und ein Erwachsener fragt: „Wie lange noch?“ Die Texte unseres Lebens- und damit Leidensgenossen Tobias Premper – nicht jeder einzelne, aber alle zusammen – wirken mit dieser Ambivalenz versöhnt, feiern den Zweifel. „Eine permanente Verneinung der Welt ist genauso Quatsch wie eine durchweg romantisierende Sicht“, sagt er. „ ‚Ja‘ zur Schönheit sagen, und aber gleichzeitig auch nach etwas Hässlichem suchen“, schreibt er. Oder: „Hört das denn nie auf: Das Mädchen füttert die Tauben und der Junge verscheucht sie.“

Zur Literatur gefunden hat Premper über eine Freundin seiner Mutter, eine mittlerweile verstorbene Buchhändlerin, bei der er sich, wann immer er wollte, Bücher ausleihen durfte. Und er wollte oft, nach dem Ende seiner Tenniskarriere. Das Angebot, in Berlin Bundesliga zu spielen, lehnte er ab, als er 18 war, weil sein Spiel den eigenen Ansprüchen nicht mehr genügte und andere Dinge wichtiger wurden, Frauen, Bücher, Zukunftspläne. Er studierte Jura, wechselte zu Literatur und Philosophie und hat beides nicht abgeschlossen. Nebenbei begann er Gedichte zu schreiben.

Die Notizen, zu denen ihn Pessoas „Buch der Unruhe“ und Handkes Journal-Aufzeichnungen inspiriert haben, waren für ihn zunächst mehr Fingerübung. Weil er mit seinen Gedichten und einem Romanversuch unzufrieden war, „alles Imitationen“, begann er Skizzen und Gedanken in ein Notizbuch zu schreiben. Die Form habe ihm die Freiheit gegeben, überhaupt etwas zu Papier zu bringen, sagt er. „Ich habe alles einfach notiert.“

Aus den vielen Büchern ein Buch machen wollte er erst etwa zwei Jahre später, als er beim Abtippen der Notizen das Gefühl hatte, „dass ich mir die Form zu eigen gemacht hatte, das Geschriebene was mit mir zu tun hatte“.

Über die Notizen hat er mittlerweile auch wieder zur längeren Form gefunden: Gerade hat er ein Manuskript mit Kurzgeschichten an seinen Verleger geschickt, als Nächstes will er eine längere Erzählung, vielleicht sogar einen Roman angehen.

Erscheinen werden die Kurzgeschichten wie schon die Notizen bei Gerhard Steidl. In dem kauzig-detailversessenen Göttinger Kunstbuchdrucker hat Premper den idealen Komplizen gefunden. Steidl sei es mehr um das bestmögliche Ergebnis gegangen als um Verkaufsargumente, lobt Premper, der schon früher viel mit dem Medium Buch experimentierte, etwa bei seinen Boxenbüchern, Text- und Bildeditionen in Form loser Blattsammlungen im Karton.

Wie viel ihm Bücher bedeuten – zu Hause lebt er mit der geerbten Bibliothek der Buchhändlerin –, zeigt sich auch darin, dass Premper dem einmal für gut befundenen Notizbuch mit jägergrünem Leineneinband auch gegen Widerstände treu zu bleiben versucht. Weil der Schweizer Ammann Verlag, der es herausgegeben hat, nicht mehr existiert, muss er Restbestände aufspüren. Neun hat Premper in Reserve, „aber ich werde schon noch ein paar finden davon“. Er mag alles daran: die robuste Verarbeitung, Zeilenlänge, Seitengröße, sogar die Lodenmantelfarbe.

Derweil kritzelt Premper unablässig weiter, mittlerweile in Buch 23, das auch schon fast wieder voll ist. Eines reicht etwa drei Monate. Manisch würde Premper sein Verhalten nicht nennen, „ich bin nur daran interessiert, dass Gedanken und Situationen nicht verloren gehen“, sagt er. Prempers Buch legt nahe, dass seine Umwelt das manchmal anders wahrnimmt. „ ‚Na‘, begrüßte mich D., als ich gerade noch etwas ins Notizbuch schrieb, ‚sprichst du wieder mit deinem Notizbuch?‘ “ Eine Seite später: „Und wieder D.: ‚Wenn du nicht mit der Schimpferei aufhörst, spricht bald nur noch dein Notizbuch mit dir.‘ “

Ganz so schlimm ist es offenbar nicht: Tobias Premper macht gerade Urlaub im Baltikum. Mit Notizbuch. Und Freundin. Zumindest die redet wohl noch mit ihm.

Tobias Premper: „Das ist eigentlich alles“. Steidl, Göttingen 2012, 256 S., 18 Euro