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Eine Wahl haben

Masha Gessens Aufsatzsammlung über Migration

Masha Gessen: „Leben im Exil. Über Migration sprechen“. Suhrkamp, Berlin 2020, 98 Seiten, 20 Euro.

Von Barbara Oertel

Masha Gessen, dem deutschen Lesepublikum bisher vor allem durch ihre Abhandlungen über die Sowjetunion und Russland bekannt, ist eine Wandlerin zwischen den Welten. Gerade deshalb verspricht ihre jüngste Veröffentlichung überraschende Einsichten. „Leben mit Exil. Über Migration sprechen“, heißt der Band der russisch-amerikanischen Publizistin jüdischer Herkunft mit drei Aufsätzen, die in den vergangenen zwei Jahren veröffentlicht wurden.

Laut Gessen sind Menschen mit Exil qua Staatenlosigkeit elementarer Rechte beraubt, ergo unsichtbar. Da sie ihre Heimat verloren haben, leiden sie an einer chronischen unheilbaren Krankheit.

Als Journalistin sieht Gessen ihre Aufgabe darin, Menschen von anderen Menschen zu erzählen und letzteren ein Gesicht zu geben. Genau das versucht sie in ihrem zweiten Aufsatz mit dem Titel „58 Geschichten der Migration“.

Inspiriert von einem Projekt der New York Times, das Tausende Kurzbiografien über die Opfer der New Yorker Terroranschläge vom 11. September 2001 beinhaltete, reihen sich – im Telegrammstil – Schicksale unterschiedlicher Protagonisten aneinander. Selbst LeserInnen, die diese Notizen als Pars pro toto bzw. Chiffre für Flucht und Migration insgesamt interpretieren, dürften in Ermangelung jeglicher Kontextualisierung etwas ratlos zurück bleiben. Weniger wäre hier wohl mehr gewesen.

Die stärksten Passagen finden sich im letzten Aufsatz, in dem Gessen ihre eigene Lebensgeschichte zum Thema macht und auch Privatestes, wie eine beidseitige Brustamputation, nicht ausspart. Hier geht es nicht nur um ihr Leben in den USA und Russland, sondern auch in mehreren Körpern – eine Frage, die für die LGBTQ-Aktivistin im Hinblick einer Selbstdefinition der eigenen queeren Identität von zen­traler Bedeutung ist. Immer wieder schwingt dabei auch das Credo mit, eine Wahl zu haben bzw. nicht zu haben. Hier optiert Gessen eindeutig für die Wahlfreiheit, weswegen sie das Narrativ der US-Schwulen- und Lesbenbewegung schwul oder lesbisch geboren zu sein, ablehnt.

„Der Mensch ist eine Abfolge von Entscheidungen, und die Frage lautet: Wird meine nächste Entscheidung eine bewusste sein, werde ich sie ungehindert treffen können? […]Es ist wie beim Emigrieren: Die Entscheidung zu gehen fühlt sich selten frei an, aber die Entscheidung, neue Weltgegenden (oder veränderte Körper) zu bewohnen, erfordert Vorstellungskraft“, schreibt Gessen am Ende, das für die LeserInnen ein Anfang ist. Denn mehr als ein Denkanstoß kann diese Textsammlung nicht sein. Doch dafür lohnt die Lektüre.

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