berliner szenen: Eine dramatische große Sexte
Ich telefoniere mit E., die das Wochenende in ihrem Brandenburger Gärtchen verbringt. Schlecht geschlafen habe sie, klagt sie, eine Nachtigall habe die halbe Nacht hindurch laut gesungen, von sieben Uhr abends bis halb vier in der Früh. Ohrenstöpsel hätten nichts genützt. „Um drei bin ich noch mal mit dem Handy raus und hab ihn aufgenommen“, sagt sie, korrekt das männliche Pronomen benutzend. „Ich spiel es dir mal vor, wenn ich zurück bin.“ Ich danke und sage, dass wir in der Stadt aber auch solche Vögel haben. Neulich erst fiel mir auf, dass in einem nahen Gebüsch eine Nachtigall schon nachmittags singt. –
Am nächsten Morgen warte ich in der Coronaschlange beim Bäcker und genieße das disziplinierte Anstehen. Es erinnert mich an damals, als die Kinder klein waren und man viel Zeit damit verbrachte, draußen herumzustehen und die Gedanken wandern zu lassen, während das Kind einen Kieselstein bestaunte. Heute fallen mir besonders die Vögel auf, die durcheinander singen, als gelte es ihr Leben. Die meisten Vogelmännchen, scheint es, bevorzugen zum Locken der Weibchen eine Tonfolge, an deren Ende ein möglichst eindrucksvolles Aufwärtsintervall steht. Einer lässt auf eine monotone Reihe von Prallern eine dramatische große Sexte folgen. Ein anderer wiederholt penetrant eine Quarte mit Vorschlagnote. Ein Dritter intoniert wiederholt eine große Sekunde abwärts, baut diese aber in eine längere Phrase ein, die wieder mit einer Quarte nach oben endet.
Was hat das zu bedeuten? Als einziger Vogel, der konsequent und ausschließlich ein Abwärtsintervall sendet, fällt mir der Kuckuck ein. Ist die kleine Abwärtsterz etwa ein Zeichen für pathologische Bindungsunfähigkeit? Der Kuckuck überlässt schließlich auch ahnungslosen Wildfremden die Aufzucht seiner Kinder. Normal ist das ja nicht. Katharina Granzin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen